"Die Pandemie bleibt das größte Risiko"

  27 September 2020    Gelesen: 449
"Die Pandemie bleibt das größte Risiko"

Im Frühjahr der Schock: Der Kampf gegen das Virus löst einen Rekordeinbruch aus. Dann die Erleichterung: Die Konjunktur erholt sich schneller als erwartet. Aber: Die Corona-Fallzahlen steigen, die Beschränkungen nehmen wieder zu. Ist die erhoffte Erholung in Form eines Vs nach dem Absturz im Frühjahr in Gefahr? "Die deutsche Wirtschaft ist besser vorbereitet", sagt der Chefvolkswirt der Berenberg Bank Holger Schmieding ntv.de. Die medizinische Situation dürfe sich jetzt nur "nicht zuspitzen".

ntv.de: In den zurückliegenden Wochen haben Konjunkturexperten ihre Prognosen immer wieder nach oben korrigiert. Gerade erhalten die Hoffnungen, dass sich Deutschland schnell aus dem Corona-Loch herausarbeiten wird, aber einen Dämpfer. V, U oder W ist die Frage: Müssen wir uns Sorgen machen?

Holger Schmieding: Kein Buchstabe trifft es. Am besten passt ein Häkchen. Nach einem dramatischen Einbruch im März und April hat sich die Konjunktur ab Mai rasch erholt, wenn auch nicht ganz in Form eines Vs. Vor allem die Verbraucher sind gerne wieder einkaufen gegangen. Nach diesem ersten großen Schub schwächt sich das Tempo zwar ab. Ein U, also eine lange Talsohle, oder eine Zweitrezession im Sinne eines Ws zeichnet sich derzeit aber nicht ab.

In Zahlen, wie schnell holt die deutsche Wirtschaft auf?

April war grottenschlecht. Ein erheblicher Teil der Wirtschaft war durch Lockdowns schlicht abgeschaltet. Allein die Tatsache, dass es im Sommer keinen vergleichbaren Monat gab, wird sich in einem kräftigen Anstieg der Wirtschaftsleistung ausdrücken. Wir rechnen damit, dass die deutsche Wirtschaft im dritten Quartal mindestens 60 Prozent der Verluste des Vorquartals ausgleichen kann. Auch wenn der Zuwachs danach deutlich geringer ausfallen wird, dürfte sie bis Jahresende etwa 80 Prozent des Einbruchs gegenüber dem ersten Quartal wieder wettgemacht haben.

Ist das nicht ein sehr optimistisches Szenario angesichts der Entwicklungen, die wir gerade sehen?

Die Pandemie stellt weiterhin das größte Risiko dar. Würde sich die medizinische Situation derart zuspitzen, dass große Teile der Wirtschaft wieder eingefroren werden müssten, würde uns eine Zweitrezession drohen. Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Stattdessen erleben wir ja, dass es trotz der höheren Infektionszahlen weit weniger schwere Verläufe gibt als im März und April. Deshalb werden vermutlich kleinere Einschränkungen reichen. Kleinere Familienfeiern, kaum Fans im Fußballstadion, verschärfte Maskenpflicht, mehr Urlaub auf Balkonien. All das ist ärgerlich. Aber es trifft nur kleine Teile der Wirtschaft.

In einigen Teilen sieht die Lage aber doch recht verzweifelt aus.

Die deutsche Wirtschaft ist weit besser vorbereitet. Die Pandemie ist kein so großer Schock mehr wie im März. Einige Bereiche wird es leider hart treffen, dass manche Restriktionen wieder verschärft werden müssen, statt gelockert zu werden. Luftfahrt, Unterhaltungsbranche, innerstädtische Hotels, Messen sind die offensichtlichen Beispiele. Aber die größten Teile der Wirtschaft dürften mit nur geringen Blessuren durch die zweite Welle kommen. Viele Unternehmen haben Reserven. Und alles in allem haben Geld- und Fiskalpolitik sowie die Aufsichtsbehörden die Weichen richtig gestellt.

Wie gefährlich ist die Entwicklung im Ausland, also beispielsweise in Frankreich oder den USA, wo umfangreiche deutsche Exporte hingehen?

In den USA hat die zweite Welle der Pandemie bereits wieder nachgelassen. Die US-Wirtschaft erholt sich rasch. Dazu trägt trotz des aktuellen Streits im US-Kongress auch eine expansive Fiskalpolitik bei, die das Defizit im US-Staatshaushalt in diesem Jahre wohl auf atemberaubende 16 Prozent der Wirtschaftsleistung hochschnellen lassen wird gegenüber weniger spektakulären 9 Prozent bei uns in Deutschland. Die Ausfuhr in die USA kommt in Gang. Auch Frankreich hat sich seit Mai rasch erholt. Dort müssen wir uns allerdings darauf einstellen, dass der Anstieg der Infektionen die Dynamik in den kommenden Monaten bremsen wird. Dagegen nehmen die Ausfuhren nach China rasch zu. Die Volksrepublik hat die Pandemie - nach schweren Fehlern in der Anfangszeit - dann doch relativ schnell in den Griff bekommen. Zudem stützt es seine Binnennachfrage wie üblich mit erheblichen Kreditprogrammen.

Über die Pandemie werden manchmal die politischen Risiken im Ausland vergessen. Welche Rolle spielen die für die Erholung?

Stichworte sind die Wahlen in den USA, die Spannungen zwischen den USA und China sowie das leidige Thema Brexit. In den USA stehen Trumps Chancen auf Wiederwahl bei etwa 40 Prozent. Sollte er nach einer Wiederwahl den Handelskrieg gegen Europa vom Zaun brechen wollen, mit dem er immer schon mal gedroht hat, würde das gerade die deutsche Konjunktur treffen. Zumindest als Risiko müssen wir das im Auge behalten. An das Risiko eines harten Brexits haben wir uns schon so gewöhnt, dass solch eine britische Bruchlandung Ende 2020 bei uns - anders als jenseits des Ärmelkanals - wohl nur einen begrenzten Schaden anrichten würde.

Versuchen wir eine Standortbestimmung. Wie geht es konkret weiter?

Das erste Stadium haben wir hinter uns. Von Mai bis Juli hat sich der Einzelhandel schnell erholt. Im zweiten Stadium, das etwa bis Ende 2020 dauern dürfte, ziehen jetzt die Produktion und der grenzüberschreitende Handel mit Gütern nach. Industrie und Außenhandel prägen derzeit das Geschehen. Im dritten Stadium werden dann in 2021 und 2022 auch die zur Zeit sehr verhaltenen Investitionen der Unternehmen wieder anspringen. Dazu kommt ein Schwenk in der Fiskalpolitik. In diesem Jahr - in der akuten Krise - ging es vor allem um eine Art Überlebenshilfe für Arbeitnehmer und Unternehmen.

Und was ändert sich mit diesem "Schwenk"?

Der Staat investiert mehr und stellt mehr Menschen ein. Das trägt die Konjunktur. Wenn die deutsche Wirtschaft dann Anfang 2022 wieder das Vorkrisenniveau erreicht hat, dürfte das Wachstumstempo in dieser Phase vier für einige Jahre über dem langjährigen Schnitt von etwa 1,5 Prozent pro Jahr bleiben. Die lockere Geld- und Fiskalpolitik wirken nach. Dazu kommt ein gewissen Nachholbedarf auch bei den Investitionen der Unternehmen. Selbst für das Neuaufstellen von Lieferketten werden ja zunächst weiter Maschinen an den neuen Standorten gebraucht. Ob der Aufschwung tatsächlich so verläuft, hängt natürlich auch von der Wirtschaftspolitik ab.

... und dann herrschen wieder "normale" Verhältnisse?

Annähernd normale Verhältnisse dürften sich etwa ab der zweiten Hälfte 2021 einstellen, wobei die Arbeitslosigkeit wohl erst Ende 2022 wieder auf das niedrige Niveau von Anfang 2020 gefallen sein dürfte. Allerdings - was heißt schon normal? Die Welt ändert sich immer. Ganz so wie vorher wird es nicht. Krisen beschleunigen oft Entwicklungen, die sich bereits vorher abgezeichnet haben. Dazu gehören der Trend zur digitalen Wirtschaft und zum flexibleren Arbeiten mit mehr Homeoffice. Auch das neue Ausrichten von Lieferketten, das schon begonnen hatte, wird sich beschleunigen. China ist kein ganz billiger Lieferant mehr und erweist sich zudem politisch als problematisch.

Mit Holger Schmieding sprach Diana Dittmer

Quelle: ntv.de


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