Sieger ohne Gespür für die Opfer

  13 Oktober 2020    Gelesen: 768
Sieger ohne Gespür für die Opfer

Für die jüdischen Opfer des Naziregimes zeigten die siegreichen US-Truppen zunächst wenig Verständnis und Mitgefühl. Vor 75 Jahren erschien der schockierende Harrison-Report.

Der Lesestoff war reichlich - und schwere Kost: Am 30. September 1945 veröffentlichte die "New York Times" einen Artikel zum Untersuchungsbericht, der als "Harrison-Report" zu einem der bedeutsamsten Dokumente der Nachkriegsgeschichte zählt. Der Bericht aus dem Weißen Haus enthielt eine kapitale Klatsche gegen die eigenen Streitkräfte im fernen Europa. Zugespitzt mit einem NS-Vergleich: "Wie die Dinge jetzt aussehen, scheinen wir die Juden zu behandeln, wie es die Nazis taten, mit dem alleinigen Unterschied, dass wir sie nicht vernichten."

Die USA im Sommer 1945: Der Sieg über Nazideutschland beherrschte die öffentliche Stimmung. Die militärischen Erfolge der US-Truppen auf den europäischen Schlachtfeldern boten reichlich Anlass zu Stolz und Jubel. Dennoch mischten sich in den Jubel dissonante Töne, erst vereinzelt, dann immer lauter.

Es waren Meldungen und Schilderungen über katastrophale Bedingungen in ehemaligen Konzentrationslagern und Zwangsarbeiterunterkünften, die nunmehr für die Unterbringung von Flüchtlingen genutzt wurden. Darunter viele Juden, die dem Holocaust entkommen waren. Ein Großteil der Entwurzelten hatte durch den Naziterror ihre Heimat verloren, sie konnten und wollten aufgrund der politischen Veränderungen nicht in ihre Ursprungsländer zurückkehren. Die Uno klassifizierte sie als Displaced Persons (DPs).

Es mehrten sich Beschwerden von herablassender bis verächtlicher Behandlung der DPs durch US-Soldaten, vor allem deren Offiziere; die Juden verlangten eigene Camps, weil sie - ihrer jeweiligen Nation zugeordnet - sich oftmals mit vormaligen Nazikollaborateuren konfrontiert sahen. Das führte zu Streitereien und Misshelligkeiten, sogar Schlägereien. Über allem der erbärmliche Lebensalltag in den Lagern.

Massive Vorwürfe gegen die US-Regierung
Berichte der unerquicklichen Zustände gelangten zügig in die amerikanische Öffentlichkeit. Als Quelle dienten häufig Briefe und Schilderungen von GIs an Familien und Freunde. Die Nachrichten aus dem besetzten Germany lösten bei der Bevölkerung Bestürzung aus. Die Washingtoner Regierung unter Harry S. Truman sah sich massiven Vorwürfen ausgesetzt, jüdische Verbände verlangten schnelle Abhilfe.

Unter diesem Druck beauftragte der Präsident am 22. Juni 1945 Earl G. Harrison mit einer Inspektion der DP-Lager in Deutschland und Österreich. Besonderes Augenmerk sollte er auf die jüdischen Überlebenden legen. Dafür war der 46-jährige Jurist bestens gerüstet. Bei seiner früheren Tätigkeit im US-Justizministerium befasste er sich mit Einwanderungsfragen, unter Präsident Roosevelt arbeitete er von 1942 bis 1944 als Leiter der Immigrationsbehörde.

Im Juli 1945 bereiste Harrison 30 DP-Camps in Deutschland und Österreich. Ihn begleitete Joseph J. Schwartz, Europa-Direktor der jüdischen Hilfsorganisation American Joint Distribution Committee. Häufig dabei war Chaplain Abraham Klausner, der als Militärrabbiner durch besonderes persönliches Engagement mehrere Unterstützungsaktionen für jüdische Überlebende innerhalb der US-Besatzungstruppen angekurbelt hatte. Sein Beistand erleichterte es Harrison, sich in den chaotischen Nachkriegsverhältnissen zurechtzufinden.

spiegel


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