In Belgien führt die rasante Ausbreitung des Coronavirus offenbar zu einem fatalen Mangel an Ärztinnen und Ärzten. "Die Situation ist katastrophal", sagte Philippe Devos, Intensivmediziner im Krankenhaus CHC Montlégia in Lüttich, laut der "Washington Post".
Lüttich ist demnach die am schlimmsten betroffene Stadt Belgiens. Viele der Ärzte und Pflegekräfte seien infiziert oder in Quarantäne, sagte Devos, in manchen Kliniken handele es sich um bis zu ein Viertel des medizinischen Personals. "Seit dieser Woche werden positiv Getestete gebeten, wieder zur Arbeit zu kommen, wenn sie asymptomatisch sind", sagte Devos, der auch Präsident des belgischen Verbandes der Medizinergewerkschaften ist. "Wir stecken tief drin."
Die genaueren Umstände des berichteten Vorgangs - dass Ärzte möglichst arbeiten gehen sollen, wenn sie positiv sind, aber keine Symptome zeigen - sind unklar. Aufgrund der ungewissen exakten Dauer der Infektiosität muss man sich vor der Wiederaufnahme der Arbeit eigentlich sicher sein, dass man nicht länger ansteckend ist. Das Robert Koch-Institut in Deutschland empfiehlt, dass Personen mit asymptomatischer Sars-CoV-2-Infektion frühestens zehn Tage nach Erstnachweis des Erregers die Isolation beenden sollten. In Situationen mit akutem Personalmangel im medizinischen Bereich könne bei leichtem Verlauf eine Verkürzung der zehntägigen Isolation im Einzelfall erwogen werden, jedoch unter Auflagen - "und zwar nach Erreichen von 48 Stunden Symptomfreiheit und Vorliegen von zwei negativen PCR-Untersuchungen im Abstand von mindestens 24 Stunden".
Die "Brussels Times" berichtete am Freitag auch vom Fall eines Polizisten aus der Gegend um die belgische Stadt Charleroi, der trotz positiven Tests arbeiten sollte. Der Berufsverband SLFP zeigte sich dem Bericht zufolge "sehr besorgt" über die Entscheidung, dass der Polizist nicht in Quarantäne bleiben musste. Einem Polizeisprecher zufolge sehen allerdings die Corona-Bestimmungen vor, dass "ein Beschäftigter, der positiv und asymptomatisch ist, die Weisung hat, arbeiten zu gehen".
Kliniken zu 87 Prozent belegt
In der vergangenen Woche waren die Krankenhäuser in Belgien laut der "Washington Post" zu 87 Prozent belegt. Doch schon bald könnten die Spitzenwerte aus dem April übertroffen werden, wenn die Infektionszahlen weiter steigen. Im April gab es weltweit kein Land, in dem - relativ zur Einwohnerzahl - mehr Menschen an Covid-19 starben als in Belgien. Einige belgische Krankenhäuser warnen nun, dass sie fast so ausgelastet seien wie während der ersten Welle.
Er sei "wütend, dass wir nicht in der Lage waren, dieses vorhergesagte Szenario zu verhindern", schrieb Marc Noppen, Chef des University Hospital of Brussels, eines der größten Krankenhäuser der Hauptstadt. Es hatte in der vergangenen Woche verkündet, die Kapazitäten der Intensivstation auszuweiten.
Belgien hält dem Zeitungsbericht zufolge eigentlich eine gute intensivmedizinische Versorgung für seine Bürger vor, nur ein Viertel der Intensivbetten ist demnach aktuell mit Covid-19-Patienten belegt. Doch damit die Betten auch genutzt werden können, braucht es geschultes Personal, das die Patienten dort versorgt. Erste Krankenhäuser schlugen in dieser Hinsicht bereits Alarm und warnten, dass ihre Intensivbetten nutzlos herumstünden, wenn das ganze Personal krank sei. Auch Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich Public Health prognostizieren ein zu schnelles Erreichen der Kapazitätsgrenze aufgrund von Personalmangel.
Die Situation sei schlimmer als im April, sagte Christie Morreale, Gesundheitsministerin der französischsprachigen Region Wallonien, am Freitag im Fernsehen. Sie rief Krankenpflegerinnen und -pfleger, Studierende in dem Bereich und Studierende der Medizin auf, sich in einem Pflegeheim oder einem Krankenhaus zu engagieren, wenn sie ein paar Stunden Zeit hätten. "Dort braucht man Ihre Unterstützung."
Dem Zeitungsbericht zufolge ist auch die Infrastruktur fürs Testen am Limit. Belgien testet nicht mehr Menschen ohne Symptome, auch nicht, wenn sie Kontakt zu einem oder einer Infizierten hatten.
Schwimmbäder, Kinos, Museen müssen schließen
Die Infektionszahlen gerieten außer Kontrolle, sagte Rudi Vervoort, Ministerpräsident von Brüssel, am Samstag bei der Verkündung neuer Maßnahmen. Als Hauptproblem bezeichnete er das Risiko eines kollabierenden Krankenhaussystems. Die belgische Regierung hatte bereits für das ganze Land die Schließung von Kneipen und Restaurants, eine nächtliche Ausgangssperre von Mitternacht bis 6 Uhr, strikte Kontaktbeschränkungen und ein umfassendes Gebot für Arbeiten im Heimbüro verfügt. Die Regionalregierung Brüssel schärfte dies nun für die Hauptstadt nach.
So gilt unter anderem ab Montag in Brüssel überall Maskenpflicht, die nächtliche Ausgangssperre beginnt bereits um 22 Uhr statt um Mitternacht, wie Ministerpräsident Rudi Vervoort mitteilte. Schwimmbäder, Sportklubs und Fitnessstudios müssen schließen, ebenso Theater, Kinos und Museen. Heimarbeit ist Pflicht, soweit dies möglich ist. Und: Kinder dürfen an Halloween nicht von Tür zu Tür ziehen.
Die Kulturbranche stehe "unter Schock", schreibt die Zeitungs "Brussels Times". "Es fehlt total an Konsistenz", kritisierte Cathy Min Jung, Chefin des Theaters Le Rideau in Brüssel. Sie beschwerte sich darüber, dass in der wallonischen Region, in Brüssel und auf Landesebene nicht die gleichen Maßnahmen gelten würden. "Ehrlich, ich bin wütend über diese Maßnahmen." Verständnisvoller zeigte sich Michael De Cock, Direktor des Royal Flemish Theatre. Die Entscheidungen seien "dramatisch, aber nicht so dramatisch wie das, was in den Krankenhäusern passiert", schrieb er auf Twitter.
56 Prozent mehr Infektionen als in der Woche davor
Belgien hat in der vergangenen Woche mit 15.432 Corona-Infektionen binnen einem Tag einen neuen Höchstwert verzeichnet. Die Zahl sei für vorigen Dienstag (20. Oktober) registriert worden, meldete die Nachrichtenagentur Belga unter Berufung auf das staatliche Gesundheitsinstitut Sciensano. Der vorherige Tageshöchstwert lag bei 12.969 (18. Oktober).
Belgien hat nur 11,5 Millionen Einwohner und trotzdem höhere Zahlen bei Neuinfektionen als Deutschland mit rund 83 Millionen Menschen. Die EU-Seuchenbehörde ECDC meldete am Samstag für Belgien pro 100.000 Einwohner binnen 14 Tagen 1115,6 Neuinfektionen. Für Deutschland waren es 118,8 Neuinfektionen, etwa ein Zehntel des Wertes von Belgien.
Der Trend zeigt nach Angaben von Belga immer noch steil nach oben: Im Durchschnitt registrierte Sciensano in den sieben Tagen vom 14. bis 20. Oktober 11.201 neue Ansteckungen, 56 Prozent mehr als in der Woche davor. Die Zahlen für die Tage danach sind noch nicht konsolidiert.
spiegel
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