Stresstest für Lukaschenko

  26 Oktober 2020    Gelesen: 318
  Stresstest für Lukaschenko

Swetlana Tichanowskajas Ultimatum an Diktator Lukaschenko hat den Protesten in Belarus neuen Aufwind gegeben – ein erster Erfolg. Nun soll der entscheidende Generalstreik beginnen.

Als sich der Protestmarsch am Sonntagabend auflöste, erschütterten plötzlich Detonationen Minsk. Im Norden der belarussischen Hauptstadt warfen Sicherheitskräfte auf der Orlowskaja Staße und in den angrenzenden Hinterhöfen Blendgranaten in Richtung der Demonstranten, teils auch in die Menge. Videos verschiedener Medien zeigten Explosionen, Rauch und Menschen, die versuchten wegzurennen. Dabei wurden sie von Beamten mit Gewehren verfolgt, die nach Berichten von Reportern vor Ort schossen. Mehrere Menschen erlitten durch Gummigeschosse Verletzungen, 280 Personen wurden Menschenrechtlern zufolge festgenommen.

Die Bilder stehen im starken Kontrast zu dem, was sich zuvor abspielte: Mehr als 100.000 Menschen - nach einigen Medienberichten sogar um die 150.000 Menschen - zogen friedlich durch Minsk. Sie klatschten, trommelten, riefen: "Es lebe Belarus", "Lukaschenko, geh weg" und "Streik". Es waren die größten Proteste, die das Land seit vier Wochen erlebte.

Im Vorfeld hatte die Präsidentschaftskandidatin und Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja aus dem Exil Machthaber Alexander Lukaschenko ein Ultimatum gesetzt: Er solle bis Mitternacht zurücktreten, Neuwahlen ansetzen, alle politischen Gefangenen freilassen. Ansonsten werde ein Generalstreik beginnen, der das Land lahmlege. Angesichts der Gewalt in Minsk ließ Tichanowskaja die Frist erst gar nicht verstreichen, rief bereits am Abend den Ausstand für Montag aus.

Tichanowskaja geht in die Offensive, was aber nicht ohne Risiko ist, auch weil Lukaschenko mit weiterer Gewalt reagieren könnte.

Bisher zeichnet die Proteste in Belarus aus, dass die Menschen ihn überwiegend selbst vor Ort dezentral organisieren, sie dadurch die politische Opposition stützen und ihr Kraft verleihen. Davon, dass Tichanwoskaja und der sogenannte Koordinationsrat, der die politische Arbeit der Opposition organisiert, die Protestbewegung leiten würde, kann bisher kaum die Rede sein. Inzwischen sind die meisten Vertreter der Opposition zudem außer Landes im Exil oder sitzen im Gefängnis.

Dass Tichanowskaja aber durchaus einen Einfluss auf den Widerstand gegen Lukaschenko hat, zeigte sich am Sonntag mit den erstarkten Protesten in Minsk. Der erste Akt des Ultimatums sei ihr gelungen, schrieb der Minsker Politikanalyst Artjom Schraibman auf Telegram. Zuletzt waren weniger Menschen am traditionellen Protestsonntag auf die Straße gegangen.

Belarus erlebt damit eine neue Phase im Ringen um den politischen Kurs des Landes, laut Schraibman steht eine wichtige Woche bevor.

Lukaschenkos "ungelenke Manöver"
Seit elf Wochen verharrt Belarus in einer Pattsituation. Nach den offensichtlich gefälschten Wahlen konnten weder Lukaschenkos Gegner auf der Straße noch der Machthaber mit seinem Sicherheitsapparat die Situation für sich entscheiden. Lukaschenko spielte auf Zeit:

Er zeigte sich an der Seite von Russlands Präsidenten Wladimir Putin, auf dessen Unterstützung der weitgehend politisch isolierte belarussische Machthaber auch wirtschaftlich angewiesen ist.

Er ließ nach einem Treffen mit inhaftierten Oppositionellen im KGB-Gefängnis einige der Gefangenen frei oder unter Hausarrest stellen - wohl in der Hoffnung, die Opposition spalten zu können.

Er telefonierte zuletzt sogar mit US-Außenminister Mike Pompeo.
"Von ungelenken Manövern" sprach der Minsker Politologe Walerij Karbalewitsch im Kreml-kritischen Sender TV Rain. Hinzukomme die Absage der Großkundgebung, auf der sich laut Lukaschenko angeblich 300.000 seiner Unterstützer am Wochenende sammeln sollten. "Damit hat die Führung zugegeben, dass sie nicht genügend Anhänger mobilisieren kann", glaubt Karbalewitsch. Nach einer aktuellen Umfrage des britischen Think Tanks Chatham House gibt jeder fünfte befragte Belarusse an, ein Unterstützer des Machthabers zu sein. 43 Prozent treten demnach für Proteste ein, 34 Prozent sympathisieren damit, haben aber Angst vor Veränderungen im Land.

Für Tichanowskaja und den Koordinationsrat wird nun wichtig sein, auch diese Gruppe vom Generalstreik zu überzeugen. Er gilt als das Mittel, um den Druck auf Lukaschenko entscheidend zu erhöhen, neuen Stress für die Führung zu erzeugen, sie so zu weiteren Fehlern verleitet, wie es Analyst Schraibman formuliert.

Etwa Dreiviertel der belarussischen Betriebe sind vom Staat mehrheitlich kontrolliert oder befinden sich ganz im Staatsbesitz. Sie sind deshalb von großer Bedeutung für Lukaschenko.

Staatsbetriebe - nicht nur Arbeitgeber
Doch viele Beobachter sind skeptisch, dass ein Generalstreik ein Erfolg wird. Bereits im August hatte die Opposition zu Arbeitsniederlegungen aufgerufen. In einigen Werken wurde auch nicht gearbeitet, allerdings nur wenige Tage lang und teils nur in Bereichen der Betriebe. Dann wurde der Druck zu groß, zu stark sind Abhängigkeiten.

In Unternehmen wie dem Kalisalzhersteller Belaruskali, der für belarussische Verhältnisse gute Gehälter zahlt, arbeiten oftmals gleich mehrere Familienmitglieder. Zudem geben die Kombinate den Arbeitern Kredite, etwa für den Kauf von Immobilien oder die Ausbildung der Kinder – Angestellte gehen also ein hohes Risiko ein, wenn sie streiken.

Was sich seit August geändert hat
Allerdings fanden die Streiks damals im August spontan statt, waren eine Reaktion auch auf die brutalen Festnahmen und die Gewalt der Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden kurz nach der Wahl. Die Frage ist nun, ob der erneute Einsatz von Blendgranaten und Gummigeschossen gegen Demonstranten am Sonntag Menschen mobilisieren wird, sich zu solidarisieren und am Streik teilzunehmen.

Die Opposition ist besser vorbereitet, hat die vergangenen Wochen genutzt, um sich zu organisieren: Es wurden Streikkomitees aufgesetzt, sich untereinander vernetzt, ein Hilfsfonds mit Spendengeldern für streikende Arbeiter aufgesetzt, damit sie sich und ihre Familien ernähren können. Wie lange die Mittel reichen, ist jedoch unklar.

Tichanowskaja glaubt, ein Weg könne sein, dass die Arbeiter dieses Mal auch zu Hause bleiben, also nicht in den Betrieben vor Ort streiken. Sie warnte aber bereits vorab: "Der Weg wird nicht leicht sein." Der Kampf gegen Lukaschenko brauche Kraft und Ausdauer.

spiegel


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