Einer meiner französischen Cousins ist Mathematiklehrer und Schriftsteller. Im Herzen ist er ein Anarchist und fährt in jeder freien Stunde mit dem Motorrad über die Landstraßen. Politisch gehört er dem linksliberalen Zweig der Familie an, bei der letzten Präsidentschaftswahl gab er seine Stimme Emmanuel Macron.
Anders als die traditionell linken, postkommunistischen Mitglieder der Familie hat er nie auf den Zusammenbruch des Kapitalismus und die Errichtung einer Räterepublik spekuliert, sondern war stets der Überzeugung, der öffentliche Gebrauch der Vernunft, ein ordentliches Schulsystem und wachere Parteien könnten alle Schwierigkeiten irgendwie bewältigen. Doch seit einiger Zeit klingt er anders.
Ihm ist sein politischer Optimismus abhandengekommen. Die Ermordung eines Lehrers, von Besuchern der Basilika von Nizza, die Schüsse auf einen Geistlichen in Lyon - solche Ereignisse deutet er nicht mehr als Ausnahmen, sondern als Beweise des unaufhaltsamen Zerfalls der französischen Gesellschaft. Er ist nicht mehr daran interessiert, wer in welcher Partei nach oben kommt. Hegt kaum noch Hoffnung für eine Regierung, deren Relevanz abnimmt, je weiter man sich von Paris entfernt. Und legt eine abnehmende Begeisterung für Europa an den Tag: Wenn es geht, reist er mit seiner Frau nach Kanada in die Ferien. Mehr Weite zum Motorradfahren, weniger Leute.
Er wohnt ganz im Süden Frankreichs, am Mittelmeer. In unseren politischen Diskussionen kommt früher oder später das Beispiel der nächtlichen Straßenschlachten in der Provinz vor: Ob ich denn nicht davon gelesen hätte, dass in dieser oder jener Mittelstadt tagelange Straßenschlachten getobt hätten, zwischen Clans und Cliquen diverser Religion und Herkunft? Zwischen Albanern und Arabern, Tschetschenen und Sinti und Roma, Afrikanern und Chinesen?
Und zwar ohne dass sich die Polizei blicken ließ. Manchmal klingt es, als würde er sich das nur ausdenken. Aber als im Juni sogar in deutschen Zeitungen von den Schlachten zwischen Tschetschenen und Beurs (also Franzosen maghrebinischer Herkunft) im beschaulichen Dijon zu lesen war, trumpfte er auf.Bei unserem letzten Treffen im Sommer war er besorgt wie selten. Er entdeckte an sich sogar eine gewisse Sympathie für den Fernsehhetzer Éric Zemmour, der in der Pose des Bildungsbürgers die Mittel der Aufklärung nutzt, um die Leute gegeneinander aufzuwiegeln. Was mein Cousin an ihm schätzt, hat mit Politik wenig zu tun. Es ist vielmehr Zemmours radikal schlechte Laune. Er beschönigt nichts, sondern liefert hardcore ab und verleiht so einem Pessimismus Ausdruck, den man oft hört und spürt in Frankreich.
Was die Französinnen und Franzosen besonders nervt, sind die stets perfekt formulierten Beschwichtigungen aus Paris. In keinem anderen Land weicht die mediale und politische Benutzeroberfläche so stark von der empfundenen Realität ab. Und jede Kleinigkeit führt zu anhaltendem Vertrauensverlust: Als die Republik zugeben musste, eine Reserve an Masken verloren zu haben, wurde daraus ein großer Skandal. Denn dass der Zentralstaat zuständig ist für die Versorgung seiner Bürgerinnen und Bürger mit Masken, davon sind alle überzeugt.
Alle Präsidenten seit Jacques Chirac waren politische One-Hit-Wonder, die erklärten, dass es aufwärts geht mit Frankreich. So hat sich in dem notorisch anarchistisch gesinnten Volk der entgegengesetzte Eindruck verfestigt - dass es nämlich abwärts geht. Dann stehen fitte, vergnügte Mittfünfziger vor einem, genießen sichtlich ihren Vorruhestand an der Atlantikküste, steigen von ihrem Rennrad und klagen, so schlimm sei es noch nie gewesen.
In Wahrheit entwickelt sich das Land höchst unterschiedlich, aber Nuancen und Differenzierungen dringen kaum noch durch. Das Bild muss wohlkomponiert wirken, die politische Zauberformel muss sitzen, und in der nächsten Woche verdrängt ein neues Problem, ein neuer Skandal die heutigen.
Erinnert sich noch jemand an die Gilets jaunes, jene gewalttätige, suburbane Protestbewegung gegen die Pkw-Ökosteuer? Das Thema ist verschwunden, die Menschen sind geblieben. In vielen Berichten wurden die große Einsamkeit, die fehlenden sozialen Bindungen der Gelbwesten als Ursache ihrer Wut beschrieben. Die ist nach wie vor ein großes, unausgesprochenes Problem.
Parteien als Tummelplätze für Karrieristen
Die Kraft der Milieus und Nachbarschaften hat rapide abgenommen, und nichts anderes hat sie ersetzt. Die Parteien spielen als Institutionen der politischen Willensbildung keine Rolle, es sind Tummelplätze für Karrieristen. Ohnehin ist die Parteienlandschaft in konstanter Bewegung, die einst mächtigsten Gruppen spielen keine Rolle mehr, und die aktuell bestehenden sind oft genug Klubs zur Feier ihres Chefs.
Kirchen und Gewerkschaften leiden schwerer als in Deutschland unter einem doppelten Mitglieder- und Relevanzverlust. Die Medien werden ernst genommen, sind aber wirtschaftlich anfällig oder allzu nah an der Regierung und verdrießen ihr Publikum durch eine beschränkte Pariser Perspektive.
Wer woanders lebt als in Paris, reist selten dorthin, die Stadt ist für Franzosen einfach zu teuer. Und wer im Großraum Paris lebt und arbeitet, muss dermaßen viel Geld verdienen, dass die Freude über den Wohnort nur selten aufkommt. Freunde in meinem Alter, die in Paris wohnen, nutzen oft Psychopharmaka, um durch die Tage und Nächte zu kommen.
Als in den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die extreme Rechte ihren Aufstieg begann, gründete sich eine selbstbewusste und vielfältige Gegenbewegung mit dem Namen SOS Racisme. Ihr Slogan lautete "Touche pas à mon pote", auf Deutsch: Mach meinen Kumpel nicht an. Damals waren Universitäten und Industriebetriebe gleichermaßen Basis dieser Bewegung, die Erfahrung gemeinsamer Arbeit von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe stärkte die Entschlossenheit.
Heute wäre solch eine Bewegung nicht mehr möglich, die Erfahrungen von Bildung und Arbeit sind zu fragmentiert. Deindustrialisierung, Dezentralisierung und Spezialisierung haben dazu geführt, dass sich individuelle Bildungs- und Arbeitserfahrungen ausbilden, die Gemeinschaft, die den Einzelnen stark macht, um auch unangenehme Fragen anzugehen, ist selten geworden.
Selbst die französische Regierung scheint alle Bestrebungen aufgegeben zu haben, ein Abbild der diversen Gesellschaft zu sein. Es überwiegt ein weißer männlicher Expertentyp, der noch so gute Absichten mit noch so guten Gründen und Mitteln verfolgen mag - es fällt Französinnen und Franzosen schwer, Vertrauen zu entwickeln.
Wo und durch wen sollen große Fragen geklärt werden? Die Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Medien sind in keiner guten Verfassung dazu. Doch das serielle Wegzappen der unangenehmen Fragen führt zu einem Schwindel, der das ganze Land in den kulturellen Taumel versetzt.
Daher fehlen die Ressourcen, um sich der aktuellen Situation und den diversen Bedrohungslagen zu stellen. Und noch etwas kommt hinzu, eine Art verdrängende Idealisierung: Weil die Republik keine Konfessionen kennt, der Glaube eine Privatsache ist, konnte sich die Politik um brisante Themen drumherummogeln. So wurde der allmähliche Anstieg des Antisemitismus, der sich aus rechten wie aus islamistischen Quellen speist, bevorzugt mit dem Mittel der Sonntagsrede, also eigentlich gar nicht bekämpft.
Der Hass auf Juden passt nicht ins französische Selbstbild, also wurde er ignoriert. Ebenso der Umstand, dass sich im Milieu der Banlieues und unter Franzosen maghrebinischer Herkunft der politische und radikale Islam breitmachen konnte. Das konnte man als Religion tarnen - und dafür war der Staat nun einmal nicht zuständig. Und je weiter man in die Gegenwartsgeschichte zurückgeht, desto mehr solcher verdrängter und weggesperrter Themen finden sich: die Beziehungen zu Algerien etwa, die links wie rechts voller Mythen und Legenden sind.
Die einzige Institution, in der Gegenwartsanalyse, Entschlossenheit und Freiheit gleichermaßen vorhanden sind, ist die Literatur. Ihr kommt in Frankreich, wie in so vielen unglücklichen Ländern, eine wesentliche Rolle zu. Die komische Misanthropie eines Michel Houellebecq, die scharfen Analysen einer Annie Ernaux oder die poetische Aufklärung durch Leïla Slimani sind gegenwärtig die Foren, in denen Frankreich zu sich selbst findet. So wie mein Cousin hoffentlich vielleicht auch: Im nächsten Jahr geht er in Rente. Dann zieht er aufs Land und wird Schriftsteller.
spiegel
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