Mehr Infektionen, weniger Isolation

  12 November 2020    Gelesen: 300
Mehr Infektionen, weniger Isolation

Die Corona-Zahlen an Schulen steigen. Gewerkschaften und Verbände fordern mehr Schutz, doch die Gesundheitsämter schicken vermehrt nur einzelne Infizierte in Quarantäne statt ganze Klassen. Wie passt das zusammen?

Eines schickt die Pressesprecherin der Region Hannover ihrer Antwort voraus: Ihr Gesundheitsamt sei für 21 Kommunen mit rund 1,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zuständig und habe seit Ausbruch der Pandemie die Beobachtung gemacht, "dass Schulen keine Infektionsherde sind und die Übertragung hier geringfügig ist". Wenn mehrere Jugendliche einer Schule sich infiziert hätten, sei das auf "Reihenansteckung im privaten Bereich in Form einer Jahrgangsparty oder ähnlichem" zurückzuführen gewesen.

Dass Schulen keine Treiber der Pandemie seien, wiederholen auch verantwortliche Politiker nahezu mantraartig, die Einschätzung hat auch die Kultusministerkonferenz jüngst noch einmal bekräftigt. Gewerkschaften und Lehrerverbände betrachten das zunehmende Infektionsgeschehen an Schulen hingegen mit Sorge.

"So wie im Moment unterrichtet wird, sind die Gesundheitsrisiken für Schüler und Lehrer zu hoch", sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, Marlis Tepe, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) am Donnerstag. Der RND hatte vorgerechnet, dass in 14 Bundesländern bereits an über 3000 Schulen kein Regelbetrieb mehr stattfinde, weil einzelne Klassen oder Jahrgänge in Quarantäne seien oder Schulen im Wechselmodell unterrichteten. Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger hatte in der "Bild"-Zeitung von Mittwoch bereits geschätzt, dass über 300.000 Schülerinnen und Schülern in Quarantäne seien und kritisiert, es komme so zu einem schrittweisen Lockdown an Schulen.

Kritik an den Quarantäne-Zahlen
Die Zahlen sind allerdings aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu betrachten. Auch der SPIEGEL hat bei den Kultusministerien die aktuellen Daten angefordert. Verlässliche Aussagen dazu, wie viele Schülerinnen und Schüler sich in Quarantäne befinden, lassen sich danach gar nicht treffen. Denn mal werden wie in Baden-Württemberg oder Berlin statt Schülerinnen und Schülern nur die betroffenen Klassen, Lerngruppen oder Schulen ermittelt, mal läuft das wie in Hessen genau andersrum oder es werden wie in Rheinland-Pfalz lediglich Verdachtsfälle gezählt. Und nicht-staatliche Schulen müssen etwa in Bayern ihre Fälle gar nicht an das Bildungsministerium melden.
Außerdem sind die Quarantäne-Zahlen lediglich ein Indiz für das tatsächliche Infektionsgeschehen. So könnten in einer Schule zehn Fälle sein, allerdings nur in einer Klasse, sodass die Zahl der Isolierten viel geringer ist, als wenn in einer Schule in vier Klassen lediglich je ein Fall auftritt – und vier Klassen in Quarantäne müssen.

Eines jedoch zeigen die Zahlen ganz deutlich: Auch vor den Schulen macht die Pandemie nicht halt. "Richtig ist, dass durch das hohe Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung auch mehr Infektionen in die Schulen hereingetragen werden. Dies führt dann dazu, dass mehr Schüler und Lehrkräfte von Quarantänemaßnahmen betroffen sind", teilt etwa das hessische Kultusministerium mit.

So weit, so absehbar. Die Frage ist nun, wie man damit umgeht. Und da finden sowohl die Bundesländer als auch die Städte und Kommunen wie so oft in der Pandemie ihre eigenen Antworten.

Die Region Hannover etwa. Hier werden Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht Mundschutz getragen haben, im Falle einer Infektion in der Klasse gar nicht mehr pauschal in Quarantäne geschickt, sondern nur die direkten Sitznachbarn. Nur wenn sich das nicht zweifelsfrei oder schnell genug ermitteln lasse, werde der Kreis weiter gefasst, um die Infektionsketten bestmöglich zu unterbrechen, teilte eine Pressesprecherin mit. Dies werde im Übrigen auch in Unternehmen so gehandhabt.

Die Aussagekraft der Quarantäne-Zahlen schmälert das natürlich weiter, und zwar als mögliche Schönrechnerei, wie Kritiker bemängeln – zumal die Praxis sich einer SPIEGEL-Anfrage zufolge in verschiedenen Ländern und Kommunen seit der vielerorts zumindest an weiterführenden Schulen geltenden Maskenpflicht weiter verbreitet.

Im Landkreis Gießen etwa werden wegen der verstärkten Hygienemaßnahmen ab Klasse 5 in der Regel nur die direkten Kontaktpersonen isoliert. Da an Grundschulen weder Abstands- noch Maskenpflicht bestehe, müsse hier aber normalerweise weiter die ganze Klasse in Quarantäne.

Die Möglichkeit zu einem differenzierten Vorgehen der Gesundheitsämter bestätigen auch der Sprecher der Berliner Senatsverwaltung für Bildung sowie die Sprecher aus Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz. In Nordrhein-Westfalen verfährt das Gesundheitsamt in Düsseldorf etwa so, in Hessen zudem die Stadt Frankfurt am Main, in Hamburg etwa das Bezirksamt Nord.

Kritik am Vorgehen
Umstritten ist, ob dieses Vorgehen mit den Vorgaben des RKI vereinbar ist. Denn Kontaktpersonen definieren sich nicht nur darüber, wie nah sie einer infizierten Person waren, sondern auch, ob sie sich länger gemeinsam in einem Raum aufgehalten haben, in dem sich infektiöse Aerosole ansammeln können – und das ist bei Schulklassen eben häufig der Fall. Entsprechend zählt das RKI in seinen Beispielen für Kontaktpersonen der Kategorie 1 Schulklassen nur "optional" auf. Hier kommt es also zusätzlich zu Abstand und Maske darauf an, dass ausreichend gelüftet wurde.

Die Städte oder Regionen, die von pauschaler Quarantäne abgerückt sind, haben dem SPIEGEL mitgeteilt, sie würden den Faktor Lüften bei ihrer Bewertung der Situation ebenfalls berücksichtigen.

Ist das Vorgehen also vertretbar? Eine Mitarbeiterin des Gesundheitsamts Frankfurt erklärte dem SPIEGEL, sie hätten auch Schülerinnen und Schüler, die mit Infizierten im Raum waren, aber nicht in Quarantäne geschickt worden seien, nach sieben Tagen vorsichtshalber getestet.

Auch Folke Brinkmann, Oberärztin für Pädiatrische Pneumologie der Uniklinik Bochum, sagt, es sei bei "konsequentem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes in der Klasse möglich, die Zahl der Kontaktpersonen 1. Grades mit hohem Infektionsrisiko und Quarantäne-Notwendigkeit auf die in direkter Umgebung sitzenden Schüler einzugrenzen."

Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Düsseldorf, gibt zu bedenken, dass sich viele Schülerinnen und Schüler auch außerhalb der Schulen mit weniger Schutzmaßnahmen treffen. Das Problem treibt bei den Überlegungen, wer in Quarantäne muss, etwa auch die Pressesprecherin des sachsen-anhaltinischen Landkreises Jerichower Land um. Man könne sich also nicht auf die Situation im Klassenraum beschränken, wenn es um die Kontaktnachverfolgung gehe.

Bayern konsequent streng, Saarland konsequent lockerer
Bayern bleibt so auch konsequent bei der Auslegung, "als Kontakt gilt der Aufenthalt am selben Ort (z.B. Klassenzimmer)" – und zwar als landesweite Anordnung für alle Gesundheitsämter. Der Rahmenhygieneplan sieht vor, dass im Falle einer Infektion "die gesamte Klasse für bis zu vierzehn Tage vom Unterricht ausgeschlossen sowie eine Quarantäne durch die zuständige Kreisverwaltungsbehörde angeordnet" wird.

Bayern ist damit eines der wenigen Bundesländer, das einheitliche Regeln vorgibt. Der Flickenteppich andernorts wiederum wird von den Verbänden kritisiert. Es sei nicht nachvollziehbar und führe zu Unmut und Verunsicherung, wenn in einem Landkreis die ganze Klasse in Quarantäne gesetzt werde, in dem anderen nur die direkten Banknachbarn, sagte der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, dem RND. Es brauche klare und transparente Regeln, wann wer in Quarantäne müsse.

Auf ein einheitliches Vorgehen haben sich nun die Gesundheitsämter im Saarland mit dem dortigen Bildungsministerium geeinigt – sie bekennen sich als erstes Bundesland konsequent dazu, Klassen nicht mehr pauschal in Quarantäne zu schicken, sofern "alle geltenden Hygiene- und Infektionsschutzregelungen im schulischen Bereich eingehalten wurden". 

Schulen als "Anker der Stabilität"
Das habe zum einen praktische Gründe, weil die Gesundheitsämter entlastet werden müssten. Zum anderen solle aber auch dafür gesorgt werden, dass die Schulen möglichst regulär weiter unterrichten können. "Schulen müssen in der Pandemie ein Anker der Stabilität für Kinder und Jugendliche bleiben", erklärt Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot. 

Damit werde eine "Schulschließung durch die Hintertür" verhindert, sagte der stellvertretende Landkreistagsvorsitzende Udo Recktenwald. Gleichzeitig belohne das Vorgehen eine "vernünftige Prävention" an den Schulen. "Insofern ist diese Quarantäne-Regelung keine Lockerung, sondern eine Anpassung an bessere Schutzbedingungen."

spiegel


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