Kritik am Snack-Verhalten: „Ständiges Essen unterwegs begünstigt Adipositas“

  07 März 2016    Gelesen: 923
Kritik am Snack-Verhalten: „Ständiges Essen unterwegs begünstigt Adipositas“
Jeder zweite Deutsche ist übergewichtig. Schuld daran sei auch eine mangelde Wertschätzung für das Essen schuld, sagt Ernährungsexpertin Alste Janßen im sh:z-Interview. Zudem verrät sie, was sie am „Bio“-Begriff stört.
KIEL | Es klingt verrückt: Obwohl die Vielfalt an Lebensmitteln nie größer und vielfältiger war, ist mehr als jeder zweite Deutsche übergewichtig. Dabei sollte Essen vor allem glücklich machen und in Ruhe genossen werden, sagt Ernährungsexpertin Alste Janßen im Interview aus Anlass des Tags der gesunden Ernährung.

„Du bist, was du isst“ ist ein geflügeltes Wort in unserer Gesellschaft. Was verrät die Ernährung über eine Person?

Oh, ziemlich viel, wie ich finde. Was wir essen hat viel damit zu tun, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen und wie wir uns in ihr verhalten. In einer Welt, in der es nicht mehr darum geht, ob wir etwas zu essen bekommen, sondern was wir wo noch günstiger kaufen können, wird die Ernährung beliebig.

Vielen Menschen scheint der Bezug für Nahrungsmittel verlorengegangen zu sein. Die Leute, die selbst schon mal eine Kuh gemolken haben, Erdbeeren gepflückt oder ein Brot gebacken haben, werden immer weniger. Zeit ist Geld, Erdbeeren gibt es das ganze Jahr im Supermarkt und Milch steht in verschiedenen Fettgehaltsstufen aus aller Herren Länder im Kühlregal. Was ist da noch „richtig“?

In der Ernährungsberatung berichten mir die Patienten stolz, abends ganz auf Kohlenhydrate zu verzichten, und nur noch Obstsalat zu essen. Oder es wird nur noch Putenfleisch und Knäckebrot gegessen, in der Hoffnung, damit abzunehmen. Die fettreiche Bratensoße zum Fleisch oder Camembert in Rahmstufe fällt unter den Tisch.

Bücher mit Rezepten zur veganen Küche, Versprechungen sich schlank zu schlafen oder Geschichten über dickmachende Getreidesorten sind häufig einseitig ausgerichtet und tragen zu einer großen Verunsicherung bei. Dabei ist die eigene Ernährung so individuell wie man selbst. Meine Einstellung zu den Dingen der Welt „ernährt“ mich. Bewusstes Leben schlussfolgert auch Bewusstsein im Umgang mit Lebensmitteln,dem Essen, egal welches Ernährungskonzept verfolgt wird.

Achtsamkeit wäre ein Schlüssel auf dem Weg zum „Du isst was Du bist“.

Insbesondere Schokolade hat ja den Ruf, glücklich zu machen. Was ist da dran?

In Schokolade sind Botenstoffe enthalten, die das „Glückshormon“ Serotonin produzieren. Leider in so kleinen Mengen, das man für den glückseligen Moment schon ziemlich viel Schokolade essen müsste, zumal der Effekt auch erst zeitverzögert einsetzt. Ein schlechtes Omen für Menschen mit Figurproblemen.

Die sensorische Komponente setzt allerdings sofort ein. Ein süßer Geruch und Geschmack und die zartschmelzende Konsistenz von Schokolade werden häufig mit positiven Gefühlen assoziiert. Die hohe Energiedichte und Zuckergehalt der Süßigkeit wirkt ebenfalls steigernd auf unser Wohlbefinden!

Gibt es Speisen oder Getränke, die glücklich oder unglücklich machen?

Na ja, Essen an sich ist ja meist erfreulich und aktiviert grundsätzlich unser Belohnungszentrum.

Häufig versetzen uns weiche und süße „Breie“ wie Milchreis oder Puddinge zurück in unsere Kindheit, wo die Welt noch in Ordnung zu sein schien. Sie befriedigen unseren emotionalen Hunger nach Wärme und Geborgenheit. Bei vermehrtem Appetit auf krachende Lebensmittel wie Chips und Kräcker sollten wir uns wahrscheinlich eher auf anderen Gebieten in unserem Leben „durchbeißen“ lernen.

Allgemein unterstützen regelmäßige Mahlzeiten und eine vollwertige Mischkost das „Glücklichsein“. Das bedeutet drei Mahlzeiten über den Tag verteilt mit ausreichend Vollkornprodukten, frischem Gemüse und Obst nach dem Prinzip „Fünf am Tag“, sehr wenig Fleisch und wenig Fertigprodukte würden einen großen Beitrag zur gesunden Ernährung liefern. Zur Definition, einer Mahlzeit sollte noch erwähnt sein, das alles, was ich mir im zeitlichen Abstand zu mir nehme, eine Mahlzeit ist. Wenn ich morgens um 7 Uhr eine Apfel esse, um 8 Uhr einen Keks und wiederum eine Stunde später einen Joghurt esse, habe ich schon drei Mahlzeiten auf der Uhr.

Für die Psyche ist auch das Trinken von Wasser oder Tee sehr bedeutsam. Mit zunehmendem Alter sinkt das Durstgefühl und viele verlernen das Trinken. Kopfschmerzen, leichter Schwindel und Konzentrationsmangel könnten so leicht weggetrunken werden.

Liebe geht durch den Magen, heißt es gern. Überspitzt könnte man dann doch sagen: Wenn das stimmt, dürfte angesichts der Scheidungsraten in Deutschland in vielen Haushalten das Essen ja nicht besonders gut und lecker sein.

Das Sprichwort stammt noch aus einer Zeit, in der es die klassische Rollenverteilung gab. Nach der ersten Verliebt und den „Schmetterlinge im Bauch“ wird der Alltag gelebt. Mann geht arbeiten, Frau versorgt Haushalt und Kinder. Hausarbeit an sich hat bis heute wenig Anerkennung gefunden, da bleibt ein leckeres Essen oder ein duftender Kuchen schon eher im Gedächtnis haften.

Es hat sich im Äußeren viel verändert. Auch die Frauen haben heute tolle Jobs und sind beruflich erfolgreich. Nach dem neuen Scheidungsgesetz und der schwachen Rentenprognose kann sich heutzutage kaum eine Frau leisten, längere Zeit zu Hause zu bleiben. Dabei bleiben andere gute Werte im familiären Bereich wie gemeinsame Mahlzeiten leider auf der Strecke. Zusammen kochen und am Tisch essen stärkt die Beziehung und sind wichtig für das Zusammengehörigkeitsgefühl. Besonders in Familien mit Kindern ist wenigstens eine gemeinsame Mahlzeit pro Tag außerordentlich wichtig.

Kinder, die häufig alleine essen und keine geregelten Mahlzeiten haben, sind vielfach Übergewichtig. Nebenbei vermerkt greifen diese Kinder häufiger zu energie- und zuckerreichen Kinderlebensmitteln und Fertigprodukten. All das verbindet die „Liebe, die durch den Magen geht“ und nicht „von Tisch und Bett getrennt“.

Heute haben viele Menschen immer weniger Zeit, sich dem Essen zu widmen und häufig wird schnell unterwegs etwas gegessen. Umgekehrt erleben Kochsendungen im Fernsehen einen wahren Boom. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch im Hinblick auf die Wertschätzung des Essens?

In Zeiten, wo es an jeder Ecke günstiges Essen zu kaufen gibt und die Werbung mir suggeriert, dass mein gewähltes Produkt hausgemacht, Bio, vegan oder zuckerfrei ist und aktiv macht, ist Essen sehr beliebig geworden. Die Wertschätzung für eine gute Mahlzeit sinkt, wenn Hunger ein Fremdwort wird.

Immer mehr Frühstücksmuffel eilen mit leerem Magen aus dem Haus! Meistens zieht sich das Planlose weiter durch den Tag. Studien konnten zeigen, dass die Nicht-Frühstücker letztendlich ungewollt mehr Kalorien durch Snacks aufnehmen als diejenigen, welche regelmäßige Mahlzeiten einhalten. Durch eine unregelmäßige Mahlzeitenstruktur hungert man sich man sich quasi in ein zu hohes Gewicht hinein. Grund sind die vielen kleinen und auch unbewussten Mahlzeiten zwischendurch und die Heißhungerattacken, in denen man zu viel und auch das Falsche isst.

Vielleicht findet sich da der Ausgleich in den Kochsendungen. Während das eigene Mikrowellen-Essen erwärmt wird, kann man nebenbei zugucken, wie sich Sterneköche duellieren, wie hübsch die Hirschmedallions angerichtet werden oder mit welcher Menüfolge ich meine Gäste überraschen kann.

Küchen sind längst keine Abstellkammern mehr, sondern stylisch, innovativ und Bestandteil des Wohnbereiches geworden. Abgesehen von dem „Alltagseinerlei“ ist Kochen eine gesellige Angelegenheit, macht Spaß und bedeutet Genuss. Wenn der gelebte Alltag wie so häufig anders aussieht, kann ich mir das Feeling auch über Kochsendungen einverleiben.

Dabei behaupten ja böse Zungen, das die Kochsendungen einen ähnlichen Effekt haben wie die Fußballgucker: Dabeisein ist alles.

Schlankheit gilt nach wie vor als Schönheitsideal in Deutschland. Daher sind sehr viele Deutsche nach eigenen Angaben darauf bedacht, ihre Ernährung zu kontrollieren. Ist Essen daher nicht eher Frust statt Lust?

Um das Gewicht zu halten oder abzunehmen, wird die Nahrungsmenge bewusst begrenzt. Rigide Esstypen denken zum Beispiel „ich esse nie mehr Schokolade“ oder „morgen nehme ich ab“. Verallgemeinerungen wie „nie“ und „immer“ haben etwas Absolutes und Begrenzendes. Das hat denselben Effekt, als wenn man sich vornimmt, nicht an ein lila Nilpferd mit gelber Schwimmweste zu denken.

Diese strikten Verbote hält natürlich kaum jemand ein, und so kippt nach dem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ das Vorhaben nach dem kleinsten Stück „Schoki“. Statt bei einem Stück zu bleiben, wird mit schlechtem Gewissen die ganze Tafel getilgt.

Das Ziel in einer Ernährungsberatung sollte sein, von der rigiden zur flexiblen Kontrolle zu wechseln und die Schokoladenmenge wie in diesem Beispiel auf eine Wochenration von einer Tafel zu beschränken. Es gibt verschiedene Gründe, wieso entgegen dem eigenen Wissen um ungesunde und kalorienhaltige Lebensmittel trotzdem nicht gehandelt wird und günstiges Verhalten nicht umgesetzt werden kann.

Dabei empfinden viele Menschen neben dem gesundheitlichen Aspekt einen hohen Druck, schlank zu sein. Die Figur und das Gewicht sind die einzigen Äußerlichkeiten, die wir - neben der Frisur und Kleidung - beeinflussen können. In dem ersten Erscheinungsbild einer Person nehmen wir dessen Figur und Haltung unbewusst sofort wahr. Ob jemand groß oder klein, dünn oder dick ist springt uns sofort ins Auge und unterliegt unterbewusst einer Bewertung.

Andere Aspekte wie Mitgefühl, Authentizität, Intelligenz, Charme und Witz werden erst auf dem zweiten Blick wahrgenommen. Während in der Nachkriegszeit Menschen mit ein paar Pfunden zu viel als gemütlich, wohlhabend und gesellig galten, entsprechen heute eher schlanke, durchtrainierte und sonnengebräunte Menschen als erfolgreich und gesund.

Der „Bio-Trend“ in Deutschland führt dazu, dass viele Menschen auf nachhaltige Tierhaltungsstrukturen achten und sich vegetarisch oder vegan ernähren. Inwiefern ist die Ernährungsweise einer Person auch ein politisches Statement oder ein Ausdruck eines selbstverwirklichten Lebensstils?

Durch die steigende Nachfrage nach Bioprodukten sind die Preise für diese in den letzten Jahren stark gefallen, in dessen Folge ist es für breitere Bevölkerungsgruppen möglich, mehr Bioprodukte zu konsumieren. Das ist natürlich positiv. Dabei finde ich den Begriff „Bio“ ziemlich abgegrast. Unter dem Begriff „Bio“ verstehe ich auch Nachhaltigkeit im Umgang der Böden, artgerechte Haltung, saisonale Angebote und geringe Transportwege. Wer „Bio“-Erdbeeren im Winter kauft, kann sich das Bio dann auch schenken.

In dem allgemeinen Ernährungswirrwarr ist es Mode geworden, sich aus der Masse zu heben. Und bei den Horrornachrichten über die Massentierhaltungen und Pestizidbelastungen hat das auch einen guten Grund. Da sollte sich jeder in der Verantwortung sehen und über den eigenen Tellerrand hinaus neue Wege zu gehen.

Welche Ausmaße das nimmt, hängt von den eigenen Möglichkeiten und Geldbeutel ab. Einheimische Möhren, Kartoffeln, Milch und Eier können auch inzwischen bei jedem Discounter in Bio-Qualität erworben werden. So hat man jedenfalls etwas Gewissheit, dass die Hühner noch ein einigermaßen glückliches Leben hatten.

Und wem abgepacktes und begastes Fleisch zuwider ist, sollte zum Schlachter seines Vertrauens gehen. Da ist die Bratwurst zwar teuer als in der Kühltheke, doch beim Fleisch gilt ohnehin das Credo: Weniger ist mehr.

Wir leben in einer Überflussgesellschaft und essen meistens nicht aus Hunger, sondern aus einer Emotion heraus. Diese scheinen aber nicht besonders positiv zu sein, sonst gäbe es vermutlich nicht so viele Übergewichtige in Deutschland?

Natürlich essen wir aus Emotionen heraus. Das Gefühl „Hunger“ ist dagegen vielen durch das häufige Zwischendurch-Essen abhanden gekommen. Wenn ich durch die Fußgängerzone gehe, sehe ich überall Eis- Bratwurst- oder Brötchen essende Menschen. Selbst die Kinder im Kinderwagen knabbern auf ihrem Zwieback herum. Das Ergebnis ist, das mit dem Snack-Verhalten eine zu hohe Kalorienzufuhr verbunden ist. Adipositas to go!

Aus Emotionen zu essen geschieht ständig und unbewusst. Dabei gibt es Hungerfördernde und –stillende Emotionen. Je nachdem, mit welches Essverhalten in der Kindheit erlebt wurde, tröste oder belohne ich mich mehr oder weniger Essen.

Im Laufe des Lebens haben wir uns zunehmend konditionierte Reize angefuttert. Viele trainieren sich ein dickmachendes Essverhalten an. Wer zum Beispiel abends beim Fernsehgucken nascht, bekommt schon automatisch Hunger, wenn er den Fernseher einschaltet und das Signal der Tagesschau hört.

Es gibt auch das Essen aus „gutem Grund“. Sich mit einer Pizza und dem passendem Wein und von dem anstrengenden Arbeitstag zu belohnen, ungünstiger weise noch aus dem Gefühl heraus, den ganzen Tag noch nichts Richtiges im Bauch gehabt zu haben, ist kurzfristig zwar glücklich aber langfristig nicht schlanker.


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