Wenn die Antibabypille Frauen krank macht

  07 März 2016    Gelesen: 1143
Wenn die Antibabypille Frauen krank macht
Frauen, die Antibabypillen der neuen Generationen nehmen, haben ein erhöhtes Thromboserisiko. Hunderte sind betroffen, einige sogar gestorben. Stefanie Engelke leidet bis heute an den Folgen
Manchmal, erzählt Stefanie Engelke, muss sie sich einfach hinsetzen. Sofort. Da, wo sie gerade ist. Im Wald oder im Supermarkt. Sie merkt es an den plötzlich stärker werdenden Schmerzen in den Beinen, an den schwarzen Flecken, die vor ihren Augen auftauchen. Täte sie es nicht, würde sie ohnmächtig werden und unkontrolliert umfallen. Dann doch lieber kontrolliert hinsetzen, die Beine in eine waagerechte Position bringen, durchatmen. Während sie kreidebleich und mit kaltem Schweiß auf der Stirn auf Höhe der Gurkengläser sitzt, muss sie den besorgt dreinschauenden Menschen um sich herum erklären, dass es ihr gut geht, jetzt, da sie sitzt.

Die Szene hat etwas Komödiantisches und Engelke lacht herzhaft, während sie das erzählt. Es passt zu ihr, ihre Geschichte mit etwas Lustigem zu beginnen. Die 31-Jährige ist ein humorvoller Mensch und kann über sich selbst lachen. Dabei ist das, was sie erlebt hat, wenig komisch: Sie ist eine von Millionen Frauen, die die Antibabypille genommen haben; in Deutschland verhüten 70 Prozent der Frauen zwischen 20 und 29 damit, bei Frauen über 30 mehr als 40 Prozent. Doch Engelke erlitt kurz nach Beginn der Pilleneinnahme schwere gesundheitliche Schäden, muss heute noch mit starken Schmerzen und Einschränkungen leben – und ist damit nicht die Einzige.

Wie das geschehen konnte? Sie nahm eine Pille der neueren Generation; die kamen in den 90er-Jahren auf den Markt, sollten besser verträglich sein und nebenbei für schönere Haut und Haare sorgen. Doch sie haben eine sehr gefährliche Nebenwirkung: Thrombosen, Blutgerinnsel, die Venen verstopfen.

Im März 2014 beschied das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), dass für einige dieser Pillen auf das größere Thromboserisiko hingewiesen werden muss. Gleichzeitig forderte es weitere Studien von den Herstellern. Damit reagiert das BfArM auf Hunderte Fälle junger Frauen, die nach der Einnahme einer Antibabypille schwere Thrombosen und in der Folge Lungenembolien erlitten haben, einige starben daran. Das Problem wurde lange Zeit ignoriert. Einige dokumentierte Fälle liegen fast zehn Jahre zurück. Doch im Dezember vergangenen Jahres startete ein Prozess gegen den Pharma-Konzern Bayer, dessen Antibabypillen einen Wirkstoff beinhalten, der angeblich das Thromboserisiko erheblich steigert.

Keine Aufklärung, keine Warnung

Der Fall von Stefanie Engelke beginnt im September 2012. Sie ging zu ihrer Frauenärztin und ließ sich die Pille Aristelle verschreiben. Es gab keinen ersichtlichen Grund, dass ihre Frauenärztin genau diese Pille, ein kostengünstiges Generikum mit den Wirkstoffen Ethinylestradiol (0,03 mg) und dem Gestagen Dienogest (2 mg), verschrieb. Engelke hatte keine Probleme mit Akne, gegen die diese Pille des Berliner Pharma-Unternehmens Aristo angeblich ebenfalls hilft. Aufgeklärt über mögliche Nebenwirkungen und das vergleichsweise erhöhte Risiko einer Thrombose bei Pillen der neueren Generation hat sie niemand. Auch in der Packungsbeilage heißt es lediglich: "Die Anwendung der ,Pille` birgt im Vergleich zur Nichtanwendung ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Venenverschlüssen, die durch einen Blutpfropf verursacht werden (Thromboembolie)." Thrombose und Lungenembolie sind unter "selten auftretende Nebenwirkungen" zwischen Gleichgewichtsstörungen und Hitzewallungen zu finden.

Wenigen Wochen später beginnen die Schmerzen im Rücken. Engelke geht zu ihrem Hausarzt, lässt sich akupunktieren und einrenken, das hilft ein bisschen. Doch es wird wieder schlimmer. Der Schmerz strahlt ins Becken und in die Beine aus. Dann bricht Engelke vor Schmerzen zusammen. Notaufnahme, zwei Tage Intensivstation. "Davon weiß ich nicht mehr viel", sagt sie. Die Schmerzmittel benebeln ihre Sinne. Bei einer MRT-Untersuchung wird eine Thrombose im Spinalkanal festgestellt. Die Thrombose hat ihn erweitert, drückt auf Rückenmark und Nerven.

Dann stellen die Ärzte fest, dass ihr Körper durchzogen ist von Thrombosen. Ihre Venen sind verstopft, das Blut kann kaum noch zirkulieren. Eine Operation kommt nicht infrage, Engelke würde das nicht überstehen. Sie bekommt starke Medikamente, kämpft um ihr Leben. Doch ihr Körper schafft es: Das Blut bahnt sich einen anderen Weg, nutzt kleinere Adern, um zum Herzen zurückzufließen. Langsam erholt sich Engelke von der akuten Situation. Doch die Thrombosen bleiben. Bis heute sind ihre Venen verstopft und quasi unbrauchbar, die Venenklappen in den Beinen funktionieren nicht vernünftig. Das Blut kann nicht in erforderlichem Maße nach oben gepumpt werden. Deswegen muss sie sich so oft schnell hinsetzen und die Beine in die Waagerechte bringen, damit ihr Kreislauf nicht zusammenklappt.

Engelke kann wohl keine Kinder mehr bekommen

Es ist nicht so, dass ihr Leben damit nun vorbei wäre. Im Gegenteil, sie kann sich an Kleinigkeiten freuen, liebt ihren Mann, ihre Familie, ihren Hund. Doch es gibt auch die andere Stefanie Engelke. Die mit Depressionen. Die, die ein Kind wollte und jetzt wohl keins mehr bekommen kann. Gynäkologen raten ihr davon ab, bei einer Schwangerschaft würde der Druck auf die schon überforderten Blutbahnen weiter steigen – Engelke versucht es trotzdem. Zwei Fehlgeburten hatte sie bereits. Zudem ist sie arbeitsunfähig. Verrentet mit 31. Jede Bewegung strengt sie extrem an. Gehen kann sie höchstens eine Stunde, stehen geht nur zehn bis 15 Minuten. Dann muss sie sich wieder aufs Sofa setzen. Beine hochlegen.

Sie hat viel Zeit zum Nachdenken. Dann spürt sie die Wut. Auf die Frauenärztin, die sie nicht beraten hat. Auf die Pharmaindustrie, die trotz aller Hinweise auf ein höheres Risiko derartige Pillen produziert. Sie hatte Kontakt zu einem Anwalt, überlegt, ob sie versuchen soll, eine Vergleichszahlung zu erwirken. Sie hat keine Beweise, dass die Pillen der Auslöser für die Verstopfung der Venen sind. Aber eindeutige Hinweise. Im Entlassungsbericht des UKE steht unter Diagnose: "Ausgeprägte Thromboembolie unter Hormonsubstitution". Ihr Hausarzt sagt, es habe keine Anzeichen für eine akute Thrombosegefährdung gegeben: "Ich glaube fest daran, dass es an der Pille gelegen hat", beweisen lasse sich dieser Zusammenhang aber wohl nie.

Felicitas Rohrer, 31, aus Baden-Württemberg, versucht dennoch, den Beweis für ihren Fall anzutreten. Denn ihr ist ähnliches passiert: Auch sie wies keine klassischen Thrombose-Risikofaktoren auf, bevor sie die Pille Yasminelle nahm. 2009 erlitt sie eine Lungenembolie, wäre fast gestorben. Schuld daran war aller Wahrscheinlichkeit nach der in ihrer Pille enthaltene Wirkstoff Drospirenon, wie Studien vermuten lassen. Rohrer wurde klar, dass sie kein Einzelfall ist; in den USA werden sogar 190 Todesfälle mit drospirenonhaltigen Pillen in Zusammenhang gebracht. Im April 2011 gründete sie die "Selbsthilfegruppe Drospirenon Geschädigter" (SDG) und reichte gleichzeitig Klage gegen den Pharma-Konzern Bayer ein – der stellte die Pille her, die mutmaßlich bei Rohrer Thrombosen und in Folge die Lungenembolie auslösten.

Es dauerte bis zum vergangenen Dezember, dann kam es zur Anhörung vor dem Landgericht in Waldshut-Tiengen. Vermutlich wird sich der Prozess noch lange hinziehen. "Das ist belastend, aber zeigt, dass das Gericht ins Detail gehen will", sagt Rohrer. Ein Angebot für eine Vergleichszahlung habe sie nie von Bayer bekommen. In den USA hat Bayer bereits Tausende Vergleiche geschlossen, über 1,5 Milliarden Dollar ausgegeben. Rohrer will aber sowieso lieber ein Exempel statuieren. "Bayer fährt in Deutschland die Strategie, Betroffene zu ignorieren", sagt sie. Das will sie sich nicht gefallen lassen.

Engelke will wohl auch klagen

"Sollte ein Urteil gegen Bayer gefällt werden, würde ich es auch versuchen", sagt Stefanie Engelke. Ihre Pille hat allerdings einen anderen Wirkstoff: Dienogest. Es wird vermutet, dass auch hier das Thromboserisiko deutlich erhöht ist, es gibt jedoch nicht genügend Studien dazu.

Das wird sich nun ändern: Hersteller Aristo Pharma erklärte auf Anfrage der "Welt am Sonntag" schriftlich, dass "die vorliegende Datenlage zur Bewertung des relativen Thromboserisikos von Dienogest (...) nicht abschließend bewertbar" sei. Das BfArM habe die Durchführung weiterer Studien angeordnet. Daran werde sich das Unternehmen beteiligen. Nach einer Nutzen-Risiko-Bewertung wird die europäische Arzneimittelagentur eine Stellungnahme abgeben, ob die Zulassungen erhalten bleiben, verändert, ausgesetzt oder widerrufen werden müssen. Für Stefanie Engelke kommt das alles zu spät.

Quelle : welt.de

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