Ist Europa noch zu retten? Darüber diskutieren Bundesjustizminister Heiko Maas, der österreichische Außenminister Sebastian Kurz, die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sowie der slowakische Europa-Abgeordnete Richard Sulík.
Zum Auftakt ist Mazedonien das Thema, ein Land, das seine Grenzen dichtgemacht hat. Ist das die Lösung der Flüchtlingsfrage, möchte Frau Will wissen. Doch anstatt auf eine direkte Frage klar zu antworten, weicht Heiko Maas aus, spricht die dramatische Lage der Flüchtlinge vor Ort an und warnt vor einem "Dominoeffekt". Was folgt sind die üblichen reflexartigen Phrasen: "Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen" und "eine Obergrenze wird nicht helfen".
Immer, wenn der Justizminister in den ersten Minuten etwas sagt, erntet er lautstarken Applaus aus dem Publikum. Und zwar von einer einzelnen Person - seinem Pressesprecher. Das ist an Penetranz nicht zu überbieten. Will beendet das Problem, indem sie den Sprecher kurzerhand persönlich begrüßt.
Die Moral der "Durchwinke-Politik"
Sebastian Kurz will gar nicht abstreiten, dass er die Bilder aus dem griechischen Dorf Idomeni, wo an der Grenze zu Mazedonien Tausende von Flüchtlingen gestrandet sind, "schlimm findet". Dennoch kommt er sogleich auf "Europas lasche Politik" zu sprechen. Er sieht das Problem der Flüchtlingskrise vor allem in der "Durchwinke-Politik" und darin, dass die Flüchtlinge sich dadurch eben aussuchen können, wo sie leben wollen.
"Das hat Deutschland, Österreich und Schweden besonders attraktiv gemacht", sagt er und zeigt Verständnis: "Wenn ich ein Flüchtling wäre, würde ich auch so reagieren und nach Deutschland oder Österreich kommen wollen." Doch genau das macht vielen Menschen Sorge, dass man nicht alle aufnehmen kann. "Jemand der Schutz sucht und wirklich vor Krieg und Bomben flieht, der muss auch mit Griechenland zufrieden sein." Dabei betont Kurz, es nicht für "moralisch hochwertiger zu halten", die Flüchtlinge anstatt von Mazedonien zukünftig von der Türkei stoppen zu lassen, wie es ja die Bundesregierung bei ihrem vermeintlichen Pakt mit Erdoğan vorhat.
"Feiern Sie doch das nächste Silvester in Köln"
Obwohl Österreich bis dato 90.000 Flüchtlinge aufgenommen hat, kritisiert Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt die neueste politische Entwicklung Österreichs, die Obergrenze: "Hier kommt ja niemand her, um sich sein Leben schön zu machen." Als Kurz sie daraufhin fragt, warum die vielen Flüchtlinge nicht auch in anderen europäischen Ländern wie Griechenland oder Mazedonien Schutz suchen können, fällt ihr keine plausible Antwort ein. Die Politikerin verfällt in die üblichen Herausforderungs-Metaphern: "Wir haben eine echte Bewährungsprobe für Europa".
Die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, möchte, statt über den Schutz von Grenzen vielmehr über den Schutz von Menschen reden, doch der slowakische Europa-Abgeordnete Richard Sulík hat da eine ganz eigene Meinung: "Wir müssen die Europäer schützen". Ein bisschen wundert man sich bei diesem Satz schon - als seien Flüchtlinge keine Menschen oder eben Menschen zweiter Klasse. Als Göring-Eckardt ihn daraufhin fragt, was er damit genau meine, antwortet er salopp: "Vielleicht feiern Sie das nächste Silvester mal in Köln und dann wissen Sie, was ich meine."
"Wertegemeinschaft" ohne gemeinsame Werte
Der Sonntagabend-Talk dreht sich im Kreis. Die Sorge um zufriedenstellende Alternativen, wie wir in Europa die Flüchtlinge verteilen oder ob wir überhaupt noch eine einzige Menschenseele in unsere sogenannte "Wertegemeinschaft" hineinlassen sollen, erhitzt die Gemüter. Konkrete Vorschläge hat aber keiner der Gäste im Gepäck. Im Einzelnen hört sich das wie folgt an: Frage Anne Will: "Sind Sie dafür, dass alle herkommen?" Antwort Katja Kipping: "Ich bin dafür, dass niemand stirbt."
Was also tun? Wie die Flüchtlinge davon überzeugen, keine lebensbedrohliche Reise anzutreten, um eine ungewisse Zukunft in Europa zu suchen? Auch Maas flüchtet sich in die zurechtgezimmerten Standardantworten aus dem Flüchtlings-Baukasten: Erneut scheint das "Bekämpfen der Fluchtursachen" das schlichte Allheilmittel. Darüber hinaus sieht er mit Blick auf den Flüchtlingsgipfel in "der Türkei einen wichtigen Partner für uns." Der Pressesprecher hat übrigens inzwischen aufgehört, die Kommentare seines Arbeitgebers zu beklatschen.
"Deutschland ist nicht erpressbar"
Österreichs Außenminister ist der Ansicht, dass eine europäische Lösung in erster Linie darin bestehen muss, das "Durchwinken" zu beenden, ohne dass Europa sich dabei "voll und ganz der Türkei ausliefert". Und dass endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden: "Ich war bei unzähligen Sitzungen dabei. Es ist nichts dabei rausgekommen, und wenn etwas rausgekommen ist, dann wurde es nicht umgesetzt!" Dann kommt er noch einmal explizit auf die Frage des Schutzes zu sprechen: "Schutz bedeutet nicht das Recht, sich automatisch auszusuchen, in welches Land in Europa man möchte."
Göring-Eckardt, die glaubt, dass die Flüchtlinge nur dorthin wollen, wo ihre "Familien und Freunde sind", um sich besser zu integrieren, fällt dem Österreicher einige Male ins Wort. Sie ist der Meinung, sein Land sei unsolidarisch und verfehle somit den Kernpunkt der europäischen Werte: "Dass Sie so unhöflich sind, wusste ich gar nicht!", sagt sie, als der Außenminister sich nicht von ihr unterbrechen lassen will.
Auch Katja Kipping kommt kaum noch zu Wort und muss sich, um überhaupt etwas sagen zu können, inzwischen schon wie ein Schulkind melden. Dabei versucht sie vor allem auf die Misere der Kurden und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufmerksam zu machen: "Dort passieren schlimme Dinge. Wo ist da die Demokratie?"
Doch wie gewöhnlich interessiert man sich weniger für die Menschenrechtsverletzungen in diesem Land, wenn es einem dafür die Flüchtlinge vom Leib hält. Es wird gemutmaßt, Erdoğan könnte damit Europa erpressen. Maas wiegelt ab: "Deutschland ist nicht erpressbar". Ob diese Ansicht der Realpolitik Europas entspricht, werden die nächsten Monate zeigen.
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