Die Pandemie verschärft die Ungleichheit in Deutschland

  19 November 2020    Gelesen: 306
Die Pandemie verschärft die Ungleichheit in Deutschland

Die Coronakrise lässt die Kluft zwischen Reich und Arm offenbar wieder größer werden. Laut einer Studie trifft sie Haushalte mit niedrigen Einkommen besonders hart.

Wenn der SPIEGEL in seinem Wirtschaftsmonitor Bundesbürger nach den dringendsten Problemen der Wirtschafts- und Sozialpolitik befragen lässt, steht ein Thema regelmäßig ganz oben: die ungleiche Verteilung von Wohlstand. Daran hat selbst die Mega-Krise der vergangenen Monate nichts geändert.

Und diese Wahrnehmung scheint durchaus angemessen. Denn die Coronakrise dürfte diese soziale Ungleichheit noch einmal verstärken. Sie trifft gerade jene häufiger und härter, die bereits zuvor mit wenig Einkommen zurechtkommen mussten – und verschont eher Gutverdiener. Zu diesem Schluss kommt zumindest das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in seinem aktuellen Verteilungsbericht. Damit scheint die Krise die Phase der vergangenen Boomjahre zu beenden, in denen die Einkommensungleichheit zwar nicht kleiner wurde, aber zumindest nicht mehr weiter wuchs.

Dieser Befund mag naheliegen – schließlich trafen und treffen die coronabedingten Einschränkungen vor allem Betriebe, in denen die Einkommen eher niedrig sind: Restaurants, Hotels, Geschäfte, Theater, Kinos, Nagelstudios. Endgültig belegen lässt er sich aber bislang schwierig, denn die gängigen Daten der detaillierten und umfangreichen Einkommens-Erhebungen liegen stets erst mit einigen Jahren Verzögerung vor.

Die WSI-Forscher griffen daher auf eine eigene umfassende Erhebung zurück: die Erwerbstätigenbefragung. In zwei Wellen wurden Anfang April und Ende Juni bis zu 7700 Personen online befragt, 6300 nahmen an beiden Befragungen teil. Sie bildet damit vor allem den Effekt des Frühjahr-Shutdowns ab. Da aber auch die neuerlichen – und mögliche künftige – Maßnahmen im Großen und Ganzen die gleichen Branchen und Menschen betreffen, dürfte sich an der Struktur der Auswirkungen auch im weiteren Verlauf der Krise wenig ändern.

Demnach müssen ausgerechnet jene Haushalte – also Familien oder Singles – Einbußen bei den Einkommen hinnehmen, die gewöhnlich ohnehin wenig Geld haben: Jeder zweite Haushalt mit weniger als 900 Euro Einkommen im Monat war davon betroffen – aber nur rund jeder vierte mit einem Einkommen über 4500 Euro.

Darüber hinaus verloren ärmere Haushalte oft einen deutlich höheren Anteil ihres Einkommens als reichere. Das macht folgende Grafik deutlich, die die relative Höhe der Einbußen für die verschiedenen Einkommensniveaus zeigt – allerdings werteten die WSI-Forscher hier ausschließlich Haushalte aus, die überhaupt Einkommen verloren hatten und in denen mehr als eine Person lebt.

Den WSI-Daten zufolge erlitten 60 Prozent der ärmsten betroffenen Familien Einbußen von mehr als einem Viertel ihres üblichen Einkommens, bei den reichsten Familien hatten lediglich 28 Prozent Verluste in dieser Größenordnung. Knapp jeder zehnte Haushalt mit einem Vorkriseneinkommen unter 900 Euro gab sogar an, sein komplettes Einkommen verloren zu haben. Hier könnte sich der massive Abbau von Minijobs abbilden – allein von März bis Juni gingen 837.000 von ihnen verloren.

Besonders hart getroffen wurden laut der Studie kleine Selbstständige und Freiberufler, bei denen mehr als die Hälfte Einkommenseinbußen erlitt. (In diesem Artikel finden Sie detaillierte Daten des WSI und anderer Institute zu Soloselbstständigen und weiteren besonders stark betroffenen Personengruppen.) Die häufigste Ursache für geschrumpfte Einkommen war aber die Kurzarbeit, in der im April und Mai rund sechs Millionen Beschäftigte waren. Auch von ihr waren Niedrigverdiener häufiger betroffen als Arbeitnehmer mit hohen Löhnen:Für eine weitere Studie, die dem SPIEGEL vorab vorliegt, hatten zwei der drei Autorinnen des Verteilungsberichts, die WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch und Andreas Hövermann, Soziologe bei der Hans-Böckler-Stiftung, untersucht, welche Faktoren einen Einkommensverlust begünstigt oder abgemildert haben. Um den Effekt eines einzelnen Faktors beziffern zu können, rechneten sie weitere Faktoren heraus. Die Grafik zeigt, wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe die Wahrscheinlichkeit für einen Einkommensverlust steigert oder senkt – es sind häufig ohnehin die Schwachen: prekär Beschäftigte, Niedrigverdiener, Menschen mit Migrationshintergrund.Die Coronakrise könnte damit einen Trend zumindest vorübergehend brechen, der in den vergangenen Jahren des Jobbooms zunehmend an Kraft gewann – die Beteiligung vor allem der mittleren, aber auch der unteren ökonomischen Schichten an den gestiegenen Einkommen. Auch diese Entwicklung stellt der WSI-Bericht dar. Allerdings geben die neuesten Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) nur bis zum Jahr 2017 Auskunft.

Lediglich das ärmste Zehntel verfügte 2017 real über niedrigere Einkommen als 2010. In dieser Gruppe dürfte das Einkommen bei den meisten Menschen fast vollständig aus der staatlichen Grundsicherung bestehen – was darauf hinweist, dass deren jährliche Anhebungen nicht ausreichen, um den ohnehin niedrigen Lebensstandard der Empfänger zumindest konstant zu halten.

Doch bereits im zweitärmsten Zehntel dürften die meisten Haushalte ihr Geld überwiegend mit Erwerbsarbeit erwirtschaften. Bei ihnen lagen die Einkommen im Vergleich zu 2010 zwar nur um real (also nach Herausrechnen der Inflation) drei Prozent im Plus – stiegen jedoch seit Einführung des Mindestlohns 2015 sehr deutlich, sogar stärker als in allen anderen Gruppen. Die Einkommen der Mittelschicht (genauer: der zehn Prozent genau unterhalb des mittleren Einkommens) waren von 2010 bis 2017 im Mittel sogar real um acht Prozent gestiegen – und damit ebenso stark wie die Einkommen des obersten Zehntels.

spiegel


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