Seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es Streit um die Deutung von Kitas und Schulen als möglichen Virenschleudern. Die Schließung der Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche hat während des ersten Lockdowns im Frühjahr für das vielleicht größte Frustpotential gesorgt. Abgesehen von den Problemen für die Kinder, die ihre Freunde vermissten und Lehrstoff verpassten, erwies es sich für die Eltern als logistische Mammutaufgabe und psychische Herausforderung, den Spagat zwischen Home-Office, Home-Schooling und Kinderbespaßung hinzubekommen.
Schulen bleiben offen – unter Auflagen
Deshalb hat das Kanzleramt im zweiten Lockdown im November die Maxime ausgegeben, Kitas und Schulen möglichst offen zu halten. Gilt das auch noch für die Verlängerung des zweiten Lockdowns, die am Mittwoch im Kanzleramt beschlossen werden soll? Im Moment sieht es so aus.
Kitas sind sowieso etwas aus der Schusslinie. Die große „Kita-Studie“ des Robert-Koch-Instituts (RKI), die noch nicht abgeschlossen ist, zeigt bisher sehr wenige Fälle von Ansteckung in Kitas und wenn, dann gibt es eher Fälle unter Erziehern als bei Kindern.
Ein größerer Streitpunkt sind die Schulen. Studien deuten an: Auch wenn Kinder und Jugendliche kaum ernsthaft an Covid-19 erkranken, steigt die Ansteckungsfähigkeit mit zunehmendem Alter und Jugendliche können das Virus möglicherweise wie Erwachsene übertragen. Nach anfänglichen Vorschlägen, im zweiten Lockdown auch Schulen wieder zu schließen, scheinen die Ministerpräsidenten der Bundesländer nun die Schulen offen lassen zu wollen. Dafür wollen sie eine Maskenpflicht in den höheren Altersstufen anordnen; und je nach Möglichkeit geteilte Klassen und Hybrid- also halb Präsent- und halb Home-Unterricht einführen.
Auch sollen die Weihnachtsferien früher beginnen. Wobei sich auch hier wieder die Frage stellt, wie die Eltern damit klarkommen, da sie in den Tagen vor Weihnachten noch arbeiten müssen.
Nur 0,53 Prozent der Kinder und Jugendlichen positiv
Theoretisch könnten die Entscheidungsträger im Kanzleramt vor ihrer Sitzung am Mittwoch noch die Daten einer Erhebung gelesen haben, die am Montag vorgestellt wurde. In einer bundesweiten Ad-hoc-Abfrage an über 100 deutsche Kinder- und Jugendkliniken, durchgeführt von der Universitätskinderklinik Regensburg, zeigt sich, dass bei über 110.000 bisher durchgeführten Sars-CoV-2 PCR-Tests zum Stichtag 18.11.2020 an den Kliniken im Mittel nur 0,53 Prozent der an Kindern und Jugendlichen durchgeführten Tests positiv waren.
Diese Stichprobe umfasst Kinder zwischen 0-18 Jahren mit möglichen Symptomen, also auch Kleinkinder und Säuglinge. Dies waren Verdachtsfälle aufgrund von Covid-19 in der Familie, aber überwiegend auch asymptomatische Patienten, die aufgrund anderer Erkrankungen oder Operationen in die Kliniken gekommen sind und dort routinemäßig auf Sars-CoV-2 getestet wurden. Diese Daten kommen einer Zufallsstichprobe also am nächsten und sind von der Anzahl der Probanden umfassender als jede Studie.
RKI-Zahlen für Kinder noch geringer
Zusätzlich zu den Routineuntersuchungen an Kinderkliniken wurden und werden durch den öffentlichen Gesundheitsdienst Reihenuntersuchungen an Schulen und Kindertagesstätten an gesunden Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Diese beim RKI gebündelten Daten kommen auf eine Quote von aktuell gerade einmal 0,21 Prozent.
Trotzdem verwiesen die Skeptiker bisher auf die mögliche hohe Dunkelziffer. Diese Bedenken haben sich durch die umfassende Zufallserhebung der Kinderkliniken relativiert, da eine Quote von 0,53 Prozent ebenfalls als äußerst gering eingestuft werden kann. Selbst wenn man nur die Daten der letzten Wochen seit Beginn des zweiten Lockdowns nimmt, kommt man bei der Erhebung der Kinderkliniken auf eine Quote von nur 1,3 Prozent positiver Coronafälle bei Kindern und Jugendlichen.
Die Professoren von der Universitätskinderklinik Regensburg, die die Erhebung veranlasst haben, kommen zu der Schlussfolgerung, dass es „sehr unwahrscheinlich“ sei, dass es über die 0,53 Prozent positiv Getesteten hinaus eine hohe Dunkelziffer unter Kindern und Jugendlichen gebe.
Weitere Studien kommen zum selben Ergebnis
International als auch national existiert wenig Evidenz, dass es – auch bei den aktuell hohen Inzidenzzahlen – eine deutliche Übertragung innerhalb der Schulen bei Anwendung der Hygienemaßnahmen stattfindet, die zur allgemeinen Krankheitslast bei den Schülern, bei den Lehrern oder bei der Allgemeinbevölkerung beiträgt. Auch gezielte Studien an Schulen, wie zum Beispiel die Studie „Stacado“ bei den Regensburger Domspatzen, zeigen bei 500 Tests über mehrere Wochen bisher keine positiven PCR-Tests auf Sars-CoV-2. In einer gerade veröffentlichten Studie aus Österreich waren bei 10.000 Tests an Lehrern und Schülern lediglich 40 Tests (0,4 Prozent) positiv und es liegt damit in einem ähnlichen Bereich wie die Erhebung aus Regensburg.
Brandgefährlicher Schulunterricht?
In der Pressemitteilung der Universitätskinderklinik Regensburg heißt es:
„Die öffentliche Diskussion und Darstellung, wie z.B. ‚brandgefährlicher Schulunterricht‘, wird durch die oben dargestellten Daten an über 110.000 Kindern und Jugendlichen auch in dieser Phase der Pandemie nicht gestützt und untergräbt das Engagement von Lehrenden, Schülerinnen und Schülern und Eltern, die sich tagtäglich mit Erfolg für einen Schulbetrieb und damit für die Bildung und Zukunft unserer Zivilgesellschaft einsetzen. Darüber hinaus führt es zu Ängsten, Unsicherheiten und Polarisierung, lenkt von einer gezielten Lösungsfindung ab und sollte deshalb unterlassen werden.“
„Lasst die Schulen offen!“
In dieselbe Kerbe schlägt der Aufruf „Lasst die Schulen offen!“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, dem Dachverband der kinder- und jugendmedizinischen Gesellschaften, der am Wochenende veröffentlicht wurde. Hier heißt es:
„Nach Ausbruch der Sars-CoV-2 Pandemie wurden ab März 2020 in Deutschland in Anlehnung an Erfahrungen mit Influenza-Pandemien die Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche geschlossen. Inzwischen wissen wir, dass diese Maßnahmen nicht geeignet sind, die Pandemie durch das neue Coronavirus einzudämmen. Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder (Schulen und Kindertagesstätten) sind bei Einhaltung der in den Hygieneplänen vereinbarten Schutzmaßnahmen vergleichsweise sichere Orte und keine Treiber dieser Pandemie. Einzelne Fälle von Sasrs-CoV-2 Infektionen werden in die Einrichtungen hereingetragen, es kommt aber nur selten zur Ausbreitung auf weitere Personen. Hinweise auf Ausbrüche mit vielen nachgewiesenen sekundären Infektionsfällen (sogenannte Superspreader Events) gibt es bisher nicht. Die Datenlage zeigt, dass Infektionen sehr viel häufiger von Erwachsenen auf Kinder übertragen werden als umgekehrt.“
Die Kinder- und Jugendmediziner verweisen auf die Auswirkungen der Pandemie auf Kinder – wie Bildungsdefizit, Entwicklungsbeeinträchtigung insbesondere auch bei Kindern mit besonderem Förderbedarf, Gefährdung des Kindeswohls oder Überforderung der Familien.
sputniknews
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