Wissenschaftler fordern neue Corona-Strategie für Europa

  19 Dezember 2020    Gelesen: 537
Wissenschaftler fordern neue Corona-Strategie für Europa

Der Shutdown light in Deutschland ist gescheitert. Renommierte Wissenschaftler verlangen nun, die Infektionszahlen in Europa drastisch zu drücken. Andere Länder zeigen: Die Strategie kann funktionieren.

»Es ist wie bei einem gigantischen Fußballspiel«, sagt Viola Priesemann. Die Physikerin vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation ist darauf spezialisiert, Ausbreitungsprozesse – etwa die von Krankheitserregern – zu simulieren. Schon seit Monaten verfolgt sie den Weg, den sich das Coronavirus rund um die Welt bahnt. »Jedes Mal, wenn die Virus-Mannschaft ein Tor schießt, bekommt sie bis zu drei neue Spieler«, sagt Priesemann. Die Abwehr der anderen Mannschaft gerät dadurch in Unterzahl, die Viren-Mannschaft schießt ein Tor nach dem anderen, die Zahl ihrer Spieler wächst und wächst.

Genau das hat Deutschland in den vergangenen Monaten erlebt. Die Tore stehen für jeden Menschen, den das Coronavirus neu befallen hat. Jeden, der eine Infektionskette in Gang gesetzt und damit unbeabsichtigt neue Viren-Spieler auf den Platz geschickt hat.

Aktueller Spielstand: mehr als 33.000 Neuinfektionen
Die Abwehr Deutschlands bilden Gesundheitsämter, Labors und die AHA-L-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften). Denn konsequente Kontaktnachverfolgung, umfangreiche Tests und das Verhalten jedes Einzelne kann Infektionen verhindern. In der Spielsituation hieße das: Wird ein Angriff abgewehrt, muss ein Viren-Spieler vom Platz, seine Mannschaft schrumpft.

Doch wenn die Viren-Mannschaft wächst und wächst, kann die Abwehr kaum mehr etwas ausrichten. Der Spielstand zur Halbzeit in Deutschland: mehr als 33.000 gemeldete Neuinfektionen an nur an einem Tag. In vielen Ländern Europas sieht es nicht viel besser aus.

Renommierte Forscherinnen und Forscher aus Europa fordern deshalb in einer von Priesemann initiierten gemeinsamen Stellungnahme im Fachblatt »Lancet«, die Fallzahlen in ganz Europa drastisch zu senken. Unterschrieben haben mehr als 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – darunter das Who-is-who der deutschen Corona-Experten:

Christian Drosten von der Berliner Charité, Sandra Ciesek, Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Uniklinik Frankfurt, Melanie Brinkmann sowie Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.

Und besonders beachtlich, weil er sich in der Coronakrise bisher nicht mit Positionspapieren hervorgetan hat: Lothar Wieler, der Chef des Robert Koch-Instituts (RKI).

Die Forscher schlagen einen Richtwert von maximal zehn Neuinfektionen pro eine Million Einwohner und Tag vor – und zwar für ganz Europa. Für Deutschland wären das maximal etwa 830 Neuinfektionen pro Tag. So niedrige Fallzahlen hatte es hierzulande zuletzt im Sommer gegeben. Ab August hatten sich wieder mehr Menschen in Deutschland infiziert. Zunächst begann das Wachstum schleichend, spätestens ab Oktober stiegen die Fallzahlen rasant. Aktuell ist die Zahl der bekannten Infektionen so hoch wie noch nie.

»Wir haben wirklich nach möglichen Vorteilen von hohen Infektionszahlen gesucht«, versichert Priesemann während einer Pressekonferenz des Science Media Center am Freitag. »Aber wir haben keinen einzigen gefunden.« Es sei ein Irrglaube, hohe Infektionszahlen erlaubten mehr Freiheiten. Das Gegenteil sei der Fall.

Ein Blick in Länder wie China, Australien, Neuseeland und Taiwan zeigt: Wo alle Infektionen konsequent nachverfolgt, Infektionsketten unterbrochen konnten und verhindert werden konnte, dass sich das Virus im großen Stil ausbreitet, erholte sich die Wirtschaft schneller, weniger Menschen erkrankten oder starben. Das öffentliche Leben läuft vielerorts nahezu uneingeschränkt weiter. »Null Covid«, so lässt sich der Weg zusammenfassen, den diese Länder gewählt haben.

Deutschland und viele andere westliche Länder haben dagegen versucht, sich mit dem Virus zu arrangieren. Viele hangeln sich nun an der Kapazitätsgrenze der Krankenhäuser entlang, mit wiederkehrenden regionalen oder landesweiten Shutdowns, wenn es gar zu brenzlig wird.

Niedrige Infektionszahlen haben laut dem Positionspapier dagegen mehrere Vorteile:

Leben retten: Wenn sich weniger Menschen infizieren, erkranken weniger Menschen oder sterben. Bisher ist es keinem Land gelungen, Risikogruppen zu schützen, wenn sich das Virus erst ausgebreitet hatte.
Leichtere Kontrolle: Sind die Fallzahlen niedrig, kommen begrenzte Kapazitäten nicht so schnell an ihre Grenzen. Das konsequente Testen, Nachverfolgen und Isolieren von Verdachtsfällen sowie die Einhaltung der AHA-L (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften) können reichen, um einen erneuten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern.

Bessere Planbarkeit: Bleiben die Fallzahlen stabil, braucht es keine überhasteten zusätzlichen Beschränkungen. Die Planungssicherheit nützt der Wirtschaft.

»Niedrige Fallzahlen haben nur Vorteile«, sagt Priesemann. »Das ist wissenschaftlicher Konsens in der Virologie, Epidemiologie, Wirtschaft und Soziologie.« Anders gesagt: Was der Gesundheit nützt, nützt auch der Wirtschaft. Tatsächlich gehören längst nicht nur Virologen und Epidemiologen zu den Unterzeichnern des Positionspapiers, sondern auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts.

spiegel


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