"Trust the plan", vertraut dem Plan, hieß es jahrelang. Die Anhänger des QAnon-Verschwörungsmythos warteten sehnsüchtig auf den Tag, an dem der nun ehemalige US-Präsident Donald Trump Massenverhaftungen orchestrieren, Militärgerichte einberufen und Hinrichtungen seiner Feinde, die Satan verehren und Kinder opfern, befehligen würde. Doch im Moment von Joe Bidens Vereidigung als 46. Präsident der USA passierte: nichts. Die Nationalgarde richtete sich nicht gegen den Demokraten, Trump legte nicht offen, wie der "tiefe Staat" ihn in seiner Amtszeit untergraben hatte. Der prophezeite "Sturm", die apokalyptische Abrechnung, blieb einfach aus. Für einige Verschwörungstheoretiker brach eine Welt zusammen, die sie sich in ihren Köpfen zusammen gesponnen hatten.
Der widerlegte und diskreditierte Verschwörungsmythos QAnon ist seit 2017 im Umlauf. Zusätzlich zu der Behauptung, dass Demokraten und eine Hollywood-Elite an einer globalen Kinderhandel-Verschwörung beteiligt seien, glauben seine Anhänger vor allem, dass Bürokraten in Washington einen "deep state", also einen Staat im Staate, gebildet hätten. Dieser habe stillschweigend über die vergangenen vier Jahre versucht, die Agenda Trumps zu untergraben und aktiv gegen ihn zu arbeiten.
Trump selbst hatte die Behauptungen angeheizt, indem er sich im nationalen Fernsehen weigerte, QAnon öffentlich anzuprangern. Anfangs als Kult bezeichnet, versammelten sich hinter dem Glauben an die Verschwörung Pro-Trump-Imperialisten, christliche Fundamentalisten, Rassisten, Faschisten, Antisemiten, leichtgläubige Vorstädter, Impfgegner und so weiter. Auf "trust the plan" konnten sich alle einigen. Spätestens beim Kapitol-Sturm, an dem sich "Qultisten" aktiv beteiligten, konnte man erkennen, welche politischen Ziele die Verschwörungstheoretiker haben. Eine geleakte, interne Geheimdienstbewertung des Verteidigungsministeriums aus dem Dezember stufte QAnon als eine der "inländischen extremistische Gruppen" ein.
"Nichts ergibt mehr Sinn"
"Trump wird während der Verhaftungen auf die Bühne kommen und Amerika für die Wiederwahl danken", freuten sich QAnon-Unterstützer noch kurz vor der Amtseinführung in einem Forum. "Dies wird als der größte Tag seit dem D-Day in Erinnerung bleiben." Trumps Abgang, der ausgebliebene Sturm (#TheStorm und #DasGroßeErwachen waren beliebte Hashtags der Szene) und Bidens erfolgreiche Vereidigung säten dann prompt Zweifel bei den Anhängern. Versetzt in einen Rausch der Verwirrung und des Unglaubens, der fast augenblicklich eine kollektive Täuschung aufdeckte und zerstörte, löschten selbst QAnon-Anführer Twitter- und Instagram-Profile und ließen ihrem Schock und Frust in Telegram-Chatgruppen oder auf Message-Boards freien Lauf. "Ich glaube, dass da soll nicht passieren", oder: "Wie lange braucht die Polizei, um die Treppe hochzulaufen und ihn zu verhaften?", heißt es da während Bidens Inauguration. "Es ist, als wäre man ein Kind und würde das große Geschenk unter dem Baum erblicken und denken, es ist genau das, was man will, nur um es zu öffnen und zu erkennen, dass es ein Stück Kohle war."
"Oh mein Gott, nichts davon war real", stellten andere Verschwörungsanhänger fest. "Nichts ergibt mehr Sinn" für sie und der Frust sitzt tief: "Leider scheinen wir alle hart betrogen worden zu sein. Es ist demoralisierend, aber wir müssen es akzeptieren, auch, wenn es verdammt scheiße ist". "Uns wurden Verhaftungen, Enthüllungen, Militärregime und die Offenlegung geheimer Dokumente versprochen. Wo ist das alles????????", zitierte CNN ein Mitglied eines QAnon-Telegramkanals, der fast 128.000 Abonnenten haben soll. "Ein erheblicher Prozentsatz im Internet schreibt, dass sie jetzt mit dem QAnon fertig sind", fasste es Daniel J. Jones, Präsident von Advance Democracy, einer überparteilichen gemeinnützigen Organisation, die extremistische Gruppen und Fehlinformationen online verfolgt, für den TV-Sender zusammen.
Die Anhänger befinden sich jetzt an einer Kreuzung und müssen entscheiden, welchen Weg sie nehmen wollen. Doch es gibt viele Anzeichen dafür, dass QAnon und ihre unwirkliche Welt bestehen bleiben werden. Denn einige Anhänger lassen sich nicht so einfach aus dem Tritt bringen, ihre Glaubenssätze sitzen zu tief und sie bestehen darauf, dass alles nach "Plan" laufe und der Krieg Trumps gegen den "deep state" jetzt erst richtig begonnen hätte.
Wandert QAnon noch weiter nach rechts?
Wiederum andere änderten einfach ihre Behauptungen und versuchten es gleich mit der nächsten Verschwörung. Es kursierte die Theorie, dass Trump Biden lediglich "erlauben" würde, Präsident zu werden, etwa für Auftritte und dergleichen. Im Hintergrund würde aber immer noch der Republikaner die Fäden ziehen. Donald Trump wird zum "Schattenpräsident", der im Amt bliebe, weil Biden und sein Kabinett angeblich doch verhaftet wurden. Trump hätte sein Amt nur "zum Schein" geräumt, weil die US-Bürger mit den Massenverhaftungen nicht hätten umgehen können. Biden dürfe sich also weiter frei bewegen, aber: "Alles, was in den nächsten 4 Jahren passiert, tut Präsident Trump", schrieb ein User auf dem Board 4Chan.
Ob die Verbreitung neuer Theorien und Überzeugungen zu einer Zersplitterung der Bewegung führt, bleibt abzuwarten. Extremismus-Experten warnen zugleich davor, dass die Rückführung der Anhänger in die Realität eine gewaltige Aufgabe wird und für die Ex-Qulisten psychisch sehr schwer. Aber auch eine weitere, rechtsgerichtete Extremisierung der Menschen, die jahrelang an Lügen glaubten und manipuliert wurden, scheint möglich, besonders über den bei Neonazigruppen beliebten Dienst Telegram. Und schließlich wird auch Donald Trump nicht komplett von der Bildfläche verschwinden, wie er ankündigte. Sein Personen-Kult wird weiterleben. Als ewiger "Underdog" könnte er QAnons reaktionären, hasserfüllten, apokalyptischen Anti-Regierungskampf weiter für sich ausnutzen und in noch gefährlichere Sphären treiben.
Quelle: ntv.de
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