Wer den Übergang zwischen Nordirland und der Republik Irland passiert, ist sich dessen nicht unbedingt bewusst - es ist eine unsichtbare Grenze. In Orten wie Pettigo, einem Dorf auf der Grenze zwischen dem Norden und der Republik, gehen die Menschen im einen Teil Irlands zur Arbeit und am Abend im anderen Teil für ein Guinness in den Pub.
Damit das auch nach dem Brexit so bleibt, gibt es im Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ein Protokoll, das die Zollgrenze in die Irische See verschiebt. So wird eine "harte Grenze" zwischen Nordirland, das zu Großbritannien gehört, und der Republik Irland, die zur EU gehört, vermieden. Weder Personen noch Waren werden an der Grenze kontrolliert.
Die plötzliche Drohung aus Brüssel, Exporte von Impfstoffen in Zukunft genehmigungspflichtig zu machen, hat daher für Verwirrung und Empörung gesorgt, denn dadurch hätte es doch zu Kontrollen an der Grenze kommen können. In Belfast, London und Dublin löste das Vorgehen der EU-Kommission scharfe Kritik aus. Die Chefin der nordirischen Regierung, Arlene Foster, sagte der BBC, das Protokoll sei "unrealisierbar" und müsse ersetzt werden.
Foster gehört der Democratic Unionist Party (DUP) an, deren zentrales Ziel die möglichste enge Bindung Nordirlands an Großbritannien ist - ihr war das Protokoll ohnehin ein Dorn im Auge. Es störe den Handel "zwischen Nordirland und unserem wichtigsten Markt", dem Rest des Königreichs.
51 Prozent der Nordiren wünschen sich ein Referendum
Fosters Stellvertreterin Michelle O'Neill fand das Vorgehen der EU-Kommission ebenfalls empörend, allerdings aus einem anderen Grund: Wie die Regierung in Dublin fürchtet sie, dass Politiker wie Arlene Foster die Drohung aus Brüssel als Vorwand nehmen könnten, um die enge Verbindung von Nord und Süd zu stören. O'Neills Partei ist Sinn Féin, die die Zugehörigkeit Nordirlands zum Königreich beenden will; dass so gegensätzliche Partner wie DUP und Sinn Féin den Norden zusammen regieren, ist Folge einer besonderen Konstruktion, die den Frieden in der Provinz sichert.
Die EU-Kommission habe "unklug, fehlgeleitet und völlig unnötig" gehandelt, erklärte O'Neill. Gleichzeitig rief sie dazu auf, einen "kühlen Kopf" zu bewahren. Dabei dürfte sie an Foster gedacht haben. Denn während O'Neill sich Sorgen macht, dass die britische Regierung nun ihrerseits das Nordirland-Protokoll kündigen könnte, hat Foster ganz andere Ängste. Nach einer Umfrage der britischen "Sunday Times", ausgeführt vom Meinungsforschungsinstitut LucidTalk, wünschen sich 51 Prozent der Nordiren ein Referendum zur Wiedervereinigung in den kommenden fünf Jahren. 44 Prozent sind dagegen, 5 Prozent haben keine Meinung.
Noch knapper ist das Ergebnis auf die Frage, was nach dem Referendum passieren soll. 47 Prozent der 2392 Befragten wollen, dass Nordirland ein Teil Großbritanniens bleibt, während sich 42 Prozent eine Wiedervereinigung wünschen. Die restlichen 11 Prozent sind unschlüssig. Zugleich glauben 48 Prozent der befragten Nordiren, dass die Insel in den kommenden zehn Jahren wiedervereinigt sein wird. 44 Prozent glauben das nicht.
Foster hält ein Referendum zum jetzigen Zeitpunkt für "absolut fahrlässig". Dem britischen Sender Sky sagte sie, es sei zurzeit wichtiger, sich mit der Pandemie zu beschäftigen, als Grenz-Umfragen zu diskutieren. Ihre Stellvertreterin O'Neill sieht in der Umfrage dagegen ein Signal. "Mehr als 50 Prozent der Menschen hier unterstützen ein Referendum zur Wiedervereinigung in den nächsten fünf Jahren. Es ist eine unaufhaltsame Diskussion über unsere konstitutionelle Zukunft im Gange", twitterte sie.
"Es gibt eine nationale Sehnsucht"
Dass es eines Tages tatsächlich dazu kommt, hält der Jura-Dozent Thamil Venthan Ananthavinayagan keineswegs für abwegig. Der Deutsche lebt seit acht Jahren in Irland und lehrt Völkerrecht am Griffith College. "Es gibt eine nationale Sehnsucht, dass die Insel vereint wird", sagt er. Seiner Einschätzung nach wollen viele Iren, dass Norden und Süden wieder zusammengehören: "Sie haben Familie unten, haben Familie oben." Verstärkt werden diese emotionalen Gründe durch politische und ökonomische Vorteile, die mit der Zugehörigkeit zur Europäischen Union einhergehen.
Ananthavinayagan verweist darauf, dass beim Brexit-Votum im Jahr 2017 zwei Teile des Vereinigten Königreichs für den Verbleib in der EU stimmten: Schottland und Nordirland. Erst vergangene Woche hat die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon angekündigt, erneut ein Referendum zur Unabhängigkeit ihres Landes auf den Weg zu bringen. Schon 2014 stimmten die Schotten ab, damals war allerdings die Mehrheit dagegen. Wenn es im Norden der Nachbarinsel in diesem Jahr zu einem Referendum zugunsten der Unabhängigkeit kommen sollte, könnte dies einen Dominoeffekt auslösen, sagt Ananthavinayagan. Die Wahrscheinlichkeit einer irischen Vereinigung würde dadurch noch einmal erhöht.
Trotzdem gibt es auch Bedenken in der Bevölkerung, die Ananthavinayagan zufolge auf zwei Ängsten gründen. "Das ist zum einen der wirtschaftliche Aspekt, weil Nordirland stark aus London subventioniert wird", sagt der Wissenschaftler. Außerdem gebe es noch immer eine Angst vor dem Aufflammen der Unruhen im Norden, "und vielleicht auch, dass diese in den Süden kommen".
Für den Frieden zwischen den beiden Gemeinschaften im Norden sorgt seit 1998 das sogenannte Karfreitagsabkommen. Zuvor hatte ein Bürgerkrieg zwischen der benachteiligten katholischen Minderheit und der protestantischen Mehrheit geherrscht. Als Höhepunkt gilt der so genannte Blutsonntag, an dem am 30. Januar 1972 britische Soldaten in der nordirischen Stadt Derry/Londonderry 13 Menschen bei einer Demonstration für Bürgerrechte erschossen.
Sowohl die gemeinsame Regierung aus Loyalisten und Republikanern in Belfast als auch die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik sind Folge des Karfreitagsabkommens. Das ist auch der Grund, warum die Drohung der EU-Kommission so viel Empörung auslöste. Mit einer harten Grenze, das befürchten viele auf der Insel, würde die Gewalt wieder aufflammen.
Ananthavinayagan sagt, damit der Frieden auch im Fall einer Wiedervereinigung stabil bleibe, müssten die Regierungen der Insel eine Arbeitsgruppe bilden. Außerdem seien neben Dublin, Belfast und London auch die USA als wichtiger Spieler zu beachten - schon das Karfreitagsabkommen war unter amerikanischer Vermittlung zustande gekommen, zudem hat US-Präsident Joe Biden irische Wurzeln. Dann müsste es Referenden im Norden sowie im Süden Irlands geben und zum Schluss eine "gesamtirische Abstimmung", so Ananthavinayagan. Der Wissenschaftler ist der Meinung, es ist "eine finanzielle, logistische und politische Herausforderung, aber die ist machbar".
Quelle: ntv.de
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