Mit rund 530 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern hat der Thüringer Saale-Orla-Kreis aktuell die höchste Inzidenz aller deutschen Landkreise und kreisfreien Städte. Das sind über 200 Fälle mehr als sie das auf Platz 2 der Hotspots folgende Schweinfurt in Bayern aufweist.
Was die Gründe für so einen außergewöhnlich hohen Wert sind, lässt sich nicht genau bestimmen. Wie so oft in der zweiten und dritten Welle handelt es sich um ein diffuses Infektionsgeschehen, bei dem die meisten Ansteckungen nicht zurückverfolgt werden können. Doch vieles deutet darauf hin, dass der Saale-Orla-Kreis besonders stark mit einem Problem zu kämpfen hat, das auch die landesweiten Inzidenzen in Thüringen hochhält.
Bei einem Blick auf die Entwicklung der Fallzahlen des Landkreises fällt auf, dass es in den vergangenen Wochen ein starkes Auf und Ab der Inzidenz gegeben hat. Dies liegt laut Pressesprecher Alexander Hebenstreit unter anderem an Verzögerungen bei den gemeldeten Fällen, die dann nachgetragen werden mussten. Auch der sehr steile Anstieg der vergangenen Tage ist teilweise darauf zurückzuführen.
Gegen den Trend
Grundsätzlich gibt es in der gesamten Region hohe Fallzahlen und Thüringen hat mit einem Wert von rund 210 unter allen 16 Bundesländern die höchste Inzidenz. Aber insgesamt ist auch dort im Gegensatz zum Saale-Orla-Kreis ein klarer Abwärtstrend zu sehen. Auch ehemalige Hotspots in der Nachbarschaft zeigen positive Entwicklungen. Der südöstliche Nachbarkreis Greiz beispielsweise war Ende März mit Inzidenzen jenseits der 600 noch Deutschlands Hotspot Nummer 1, jetzt zählt er nur noch 232 Neuinfektionen pro Woche und 100.000 Einwohner.
An der Nähe zu Tschechien kann es nicht liegen, sonst hätten zumindest der sächsische Vogtlandkreis oder der bayerische Landkreis Hof, die als östliche Nachbarn direkt an der Grenze liegen, ähnlich hohe Fallzahlen wie der Saale-Orla-Kreis. Doch mit Werten von 165 und 170 sind deren Sieben-Tage-Inzidenzen deutlich niedriger. Außerdem ist Tschechien inzwischen kein Hochrisikogebiet mehr und hat aktuell mit 132 sogar schon eine etwas niedrigere Inzidenz als Deutschland.
Zu viele private Kontakte
Auf einzelne Ausbrüche sei der hohe Wert seines Landkreises nicht zurückzuführen, sagt Pressesprecher Hebenstreit ntv.de. Es habe vor den Schließungen auch nicht besonders viele Ansteckungen an den Schulen gegeben. Die Kitas würden zwar trotz eines offiziellen Notbetriebs fast normal besucht, seien aber ebenfalls nicht als Infektionsherde aufgefallen.
Hebenstreit hält zu viele private Kontakte für den Hauptgrund der hohen Infektionszahlen. "Wir bilden da im Vergleich zu anderen ländlich geprägten Regionen sicher keine Ausnahme", sagt er. So ähnlich drückte sich auch seine Greizer Kollegin Illona Roth Mitte März aus. Die Menschen träfen sich, weil der soziale Zusammenhalt stark sei, sagte sie ntv.de.
Der Jenaer Infektiologe Matthias Pletz sagte dem MDR, es gäbe auf dem Land eher eine Vereinskultur, die Menschen kannten sich besser. Die Intensität der Kontakte sei dann entscheidend, so der Infektiologe. Das Virus halte sich auf dem Land viel länger.
Naivität und Ignoranz
Das kann aber nur ein möglicherweise größeres Bedürfnis der Menschen, sich zu treffen, erklären. In anderen ländlichen Regionen halten sie sich aber trotzdem an die Regeln. Mit der Akzeptanz der Corona-Maßnahmen gibt es offenbar in ganz Thüringen ein Problem. Im Rahmen einer Erhebung des Forschungsprojekts COSMO gaben im März 65 Prozent der befragten Thüringer an, mindestens einmal pro Woche Familienmitglieder aus einem weiteren Haushalt zu sehen. Jeder Zweite sagte, er treffe mindestens einmal pro Woche Freunde und Bekannte.
Dabei ist eine große Portion Naivität beziehungsweise Ignoranz im Spiel. Nur jeder vierte Befragte glaubte, man könne sich bei solchen Treffen anstecken. Stattdessen hielten sie die Ansteckungsrisiken beim Einkaufen im Supermarkt oder beim Arztbesuch für höher.
Die Erhebung ergab außerdem, dass mehr als ein Drittel (36 Prozent) der befragten Thüringer im März die einschränkenden Maßnahmen für übertrieben oder eher übertrieben hielten. Gleichzeitig schätzten sie ihr persönliches Risiko, an Covid-19 zu erkranken, niedriger ein als jene, die die Maßnahmen für angemessen halten.
Ein gutes Beispiel für ein entsprechendes Verhalten ist eine Garagen-Party in der Kleinstadt Schleiz mit 26 Teilnehmern zwischen 16 und 25 Jahren, wobei einige von ihnen auch aus dem Nachbar-Landkreis Greiz kamen.
Die AfD spielt eine Rolle
Die politischen Präferenzen fragten die COSMO-Forscher nicht ab. Der Verdacht liegt aber nahe, dass es zwischen dem Verhalten rund eines Drittels der Bevölkerung beziehungsweise der Ablehnung der Corona-Einschränkungen und einem hohen Anteil von AfD-Wählern einen Zusammenhang gibt. Bei der Europawahl 2019 erreichte die Partei im Saale-Orla-Kreis mit 27,1 Prozent den größten Stimmenanteil.
Beim Bundesparteitag im April verabschiedete die AfD die sogenannte Corona-Resolution, die ein Ende der meisten Maßnahmen zur Bekämpfung der Infektionswelle fordert. Maßgeblich daran beteiligt war der Thüringer Landesvorsitzende Björn Höcke. Befürworter des Annäherungskurses an die "Querdenker"-Bewegung stammen überwiegend aus den östlichen Bundesländern. "Wir haben eine auf jeden Fall wahrnehmbare Querdenker-Szene", sagt Landkreis-Sprecher Hebenstreit ntv.de. Obwohl der Kreis keine größeren Städte habe, fänden auch jeden Montag Protestmärsche statt.
Starke Industrie mit Präsenzarbeitsplätzen
Querdenker und viele Sympathien für die AfD gibt es allerdings auch in anderen Thüringer Landkreisen. Die Inzidenzen sind zwar auch dort oft weit jenseits der 200, aber eben nicht so hoch wie im Saale-Orla-Kreis. Was genau den Unterschied ausmacht, ist nicht bekannt. Es könnte unter anderem etwas mit der Wirtschaftsstruktur zu tun haben. Bei der COSMO-Umfrage kam heraus, dass 55 Prozent der befragten Berufstätigen bei der Arbeit täglich mit mehr als fünf Personen so nahen körperlichen Kontakt haben, dass eine Covid-19-Ansteckung möglich wäre.
Die Industrie- und Handelskammer (IHK) schreibt, der Kreis sei "durch eine hohe Industriedichte gekennzeichnet und weist mit über 90 Industriearbeitsplätzen pro 1000 Einwohner einen Spitzenwert in Thüringen auf. Der Branchenmix wird angeführt durch das Ernährungsgewerbe, die Herstellung von Metallerzeugnissen, Gummi- und Kunststoffwaren sowie das Holzgewerbe und die Bauzulieferindustrie. Das größte Unternehmen, die GGP Media GmbH in Pößneck, produziert und vertreibt mit über 1000 Beschäftigten grafische Druckerzeugnisse."
Homeoffice ist in solchen Unternehmen die Ausnahme. Und auch wenn man es bei so hohen AfD-Werten vermuten könnte, hat der Kreis im März eine geringe Arbeitslosenquote von 5,3 Prozent. Auch bei Jungen Menschen bis 25 Jahre ist sie nicht höher.
Kontrolle kaum möglich
Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass die Infektionen aus dem privaten Bereich in den Unternehmen des Kreises vervielfältigt werden. Laut Alexander Hebenstreit sind vor allem bei den größeren Betrieben die Hygienekonzepte zwar gut und es würde auch viel Geld für Tests in die Hand genommen. "Aber ein Konzept zu haben ist die eine Sache, es durchzusetzen, eine andere." Und weil die personellen Ressourcen des Kreises knapp seien, bleibe es bei Stichproben.
Die beruflich besonders aktive Gruppe ist jedenfalls im Saale-Orla-Kreis wie im Rest der Republik am stärksten betroffen. Auf einer interaktiven Deutschlandkarte der Technischen Universität München sieht man, dass von 424 Infektionen der vergangenen sieben Tage 180 den 35- bis 59-Jährigen zuzuordnen sind. Außergewöhnlich hoch ist auch der Anteil der 60- bis 79-Jährigen mit 92 Fällen. Dies wiederum könnte daran liegen, dass sie von jüngeren Familienmitgliedern angesteckt werden.
Ob mit zusätzlichen Maßnahmen die Inzidenz des Saale-Orla-Kreises gesenkt werden könnte, weiß Alexander Hebenstreit nicht. Letztendlich sei die Akzeptanz in der Bevölkerung entscheidend. In Greiz sind die gesunkenen Zahlen möglicherweise auf eine strenge Ausgangssperre zurückzuführen. Doch davon hält Hebenstreits Chef, Landrat Thomas Fügmann, wenig. "Das bringt nichts und ist in der Praxis nicht kontrollierbar", sagte er der "Ostthüringer Zeitung".
"Wir haben viele gute Konzepte, viele gute Maßnahmen und die müssen einfach mal eingehalten werden", sagt Hebenstreit. "Und wenn das richtig funktioniert, dann reicht das völlig aus. Das Problem ist eben die Eigenverantwortung der Leute, dass auch alles eingehalten wird, was an Maßnahmen vorgegeben ist."
Quelle: ntv.de
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