ntv.de: Sie wohnen in Tel Aviv. Wie haben Sie die Bombennächte Anfang der Woche erlebt?
Steffen Hagemann: Neuere Häuser haben standardmäßig Schutzräume in der Wohnung, in die man sich bei einem Angriff flüchtet. Ich wohne im Altbau, dort laufen bei Alarm alle Bewohner in den Keller. Die Sirenen heulten erstmals um 21 Uhr, wir blieben dort unten, bis eine halbe Stunde später die Entwarnung kam. Dann ging es gegen 3 Uhr nachts nochmal los. Die Hausgemeinschaft hatte zuvor den Keller schon etwas sauber gemacht, die Kakerlaken weggefegt und Stühle für alle aufgestellt.
Das klingt gespenstisch und gleichzeitig routiniert.
In Tel Aviv ist vorgesehen, dass jeder Bürger bei Bombenalarm in 90 Sekunden einen Schutzraum erreichen können soll. Die Abläufe sind also routiniert, ja, das müssen sie sein. Was keine Routine ist: Verschreckten Kindern zu erklären, was draußen passiert. Im eigenen Körper zu spüren, wie die Einschläge alles vibrieren lassen. Detonationen zu hören, die so laut sind, als schlüge die Rakete im Haus nebenan ein.
Kamen die Raketen tatsächlich in Salven über die Stadt?
Ja, die Hamas hat in sehr kurzen Phasen Hunderte Raketen auf Tel Aviv abgefeuert. Von der Masse der Raketen und auch in Bezug auf die Ziele hat das eine neue Dimension. Beim Militärkonflikt 2014 hat die Hamas 5000 Raketen in 50 Tagen abgefeuert. Diese Woche waren es 1700 Raketen in zwei Tagen.
Hält der Iron Dome dem stand?
Ziel der Hamas ist auf jeden Fall, den Iron Dome, das israelische Abfangsystem, zu überfordern. Und das ist ihr einige Male gelungen. In den ersten Nächten der Woche gab es massive Explosionen, wurden einige Häuser und ein Bus getroffen. Und auch wenn der Iron Dome die Rakete abfängt, ist das für die Bevölkerung gefährlich. Die Reste fallen ja vom Himmel und können überall landen.
Trauen sich die Menschen derzeit auf die Straße?
In Städten wie Ashkelon im Süden, die den ganzen Tag über unter Beschuss stehen, gibt es praktisch keinen Alltag derzeit. Dort ist es zu gefährlich auf die Straße zu gehen. Solange in Tel Aviv die Sirene nicht anschlägt, kann man schon rausgehen, ich gehe auch einkaufen und zum Sport. Aber die Stadt ist ganz leer, die Schulen sind geschlossen, auch viele Restaurants und Cafés. Wir haben Glück mit dem Alarmsystem, die Menschen in Gaza haben so etwas nicht. Sie müssen permanent Explosionen fürchten.
War vorherzusehen, dass die Hamas so massiv angreifen würde?
Diese Dimension hat hier alle sehr erschreckt, darauf war wohl niemand vorbereitet. Die Hamas hatte Israel ein Ultimatum gestellt, und als das auslief sofort Raketen abgefeuert. Das israelische Parlament in Jerusalem musste zur Sicherheit geräumt werden. Zugleich schwelen die Konflikte schon länger, die jetzt zum Auslöser der Gewalt wurden.
Sie denken an die palästinensischen Familien in Scheich Dscharrah?
Sie sollen aus ihren Häusern geworfen werden, damit Israelis dort siedeln können, die noch alte Besitzansprüche haben aus der Zeit vor der Gründung des Staates Israel 1948. Ein israelisches Gesetz erlaubt ihnen, den alten Besitz zurückzufordern, erlaubt Palästinensern solche Rückforderungen aber nicht.
Also das Gesetz hinter den Zwangsräumungen provoziert die Menschen?
Es geht den Protestierenden nicht um sechs Familien, es geht ihnen um israelische Besatzungspolitik. Ostjerusalem ist besetztes Gebiet, dort dürfen nach internationalem Recht keine Änderungen an Besitzverhältnissen vorgenommen werden. Wenn Israel dieses Recht bricht, dann mit dem Ziel, Ostjerusalem vom Westjordanland abzuspalten, also palästinensische Siedlungen voneinander abzutrennen und eine jüdische Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. Es ist staatliche Politik, die Israel auf dem Boden durchsetzen will.
Wie kam es zum Tränengas-Einsatz in der Al-Aksa-Moschee?
Für Juden und Araber ist Jerusalem ungeheuer wichtig - ein religiöses und nationales Symbol. Was in Jerusalem passiert, reicht immer über die Stadt hinaus. Die israelische Regierung war zu spät damit, den Konflikt, der sich da aufstaute, zu entschärfen. Am Samstag ging der Ramadan zu Ende, es war der wichtigste muslimische Feiertag im Jahr. Viele Gläubige feiern das Fastenende an den Treppen zum Damaskustor, wegen diverser Proteste in den Tagen zuvor hatte die Polizei den Bereich jedoch abgesperrt. Davon haben sich viele sehr provoziert gefühlt.
Und dann war auch noch Jerusalem-Tag?
Tags darauf feierten die Juden den Jerusalem-Tag, ein Feiertag im Gedenken an die Eroberung der Stadt. National-religiöse Gruppen wollten ihn mit einer Flaggenparade durch die muslimischen Viertel und das Damaskustor begehen. Auch das provozierte Widerstand, und erst sehr spät hat die Polizei die Route geändert. So kam es zur Eskalation und zu Gewalt auf der Straße, schließlich zu Tränengas-Granaten in der Al-Aksa-Moschee.
Mit ihrem brutalen Raketenhagel feiert sich die Hamas nun als Retterin Jerusalems.
Das war ihr Ziel, und in den Augen vieler Palästinenser ist ihr das wohl gelungen. Die Hamas will die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde, die im Westjordanland an der Macht sind, als schwach darstellen, als Handlanger Israels. Das hat sie erreicht, mehr aber auch nicht. Die Hamas regiert in Gaza autoritär, die Menschen leben in katastrophalen Verhältnissen. Sie hat nun keineswegs die Massen der Palästinenser hinter sich und bleibt militärisch klar unterlegen. Für sie ist kein weiteres Ziel erreichbar. Der Angriff kostet Menschenleben und führt am Ende zu gar nichts, darum hat die Hamas ja auch schon einen Waffenstillstand angeboten.
Israel hat aber nicht eingewilligt. Welches Ziel hat Netanjahu im Blick?
Vermutlich wird er bald in einen Waffenstillstand einwilligen. Ein militärischer Sieg ist kaum zu erreichen, eine umfassende Bodenoffensive aber würde auch in der israelischen Armee sehr viele Opfer kosten. Und wer sollte nach dem Sieg Gaza militärisch kontrollieren? Die allermeisten Israelis wollen nicht, dass ihre Armee dort die Kontrolle übernimmt. Innenpolitisch hat Netanjahu von der Eskalation profitiert. Gerade war die Opposition dabei, eine Koalition zu formieren, die Netanjahu ablösen sollte. Ihr hätten auch rechte jüdische Parteien angehört, zugleich wäre sie von einer arabischen Partei toleriert worden. Das gab es noch nie. Nun sind diese Verhandlungen erstmal vom Tisch. Das rettet Netanjahu vorerst im Amt.
Dann war die Dynamik in Israel gerade eine andere? Weg vom Konflikt, hin zu politischer Zusammenarbeit?
Zwischen jüdischen und arabischen Parteien gab es erstmals einen echten Willen zusammenzuarbeiten, ja. Die arabische Partei Raam hatte pragmatische Forderungen, wollte die Lebensverhältnisse der palästinensischen Israelis konkret verbessern. Die Hoffnung auf engere, konstruktive Zusammenarbeit hat sich in dieser Woche zerschlagen. In diesem Punkt hat die Hamas Netanjahu in die Hände gespielt.
Und ansonsten? Netanjahu hat es zugelassen, dass Katar die Hamas finanziell unterstützt. Hat er sich damit verzockt?
Das war seine Strategie der vergangenen Jahre: Er hat sich auf taktische Arrangements mit der Hamas in Gaza eingelassen und gleichzeitig Verhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland abgelehnt. Die Stärke der radikalen Hamas und die Spaltung der palästinensischen Führung haben ihm die Begründung dafür geliefert, mit den Palästinensern nicht verhandeln zu können.
Nicht verhandeln bringt aber auch keine Lösung. Wo sollte das hinführen?
Seine Strategie war, den Konflikt mit den Palästinensern zu unterdrücken, sodass er mehr und mehr an Bedeutung verliert, die Menschen sich in ihr Schicksal fügen und weiter unter der Besatzung leben. Bestärkt hat ihn der damalige US-Präsident Trump darin und auch die Abraham Accords, also die Annäherung an einige arabische Staaten, die auch kein Interesse mehr an einer Lösung des Palästina-Konflikts gezeigt haben. Die Strategie ist nicht aufgegangen.
Nun tragen Jugendliche den Konflikt auch auf den Straßen israelischer Städte aus. Wie gefährlich ist das?
In den sozialen Medien werden Videos von Angriffen, Plünderungen, Lynchmorden geteilt. Radikale Gruppen auf beiden Seiten befeuern das. In vielen arabischen Vierteln Israels ist die israelische Polizei schon länger kaum noch präsent. Das spielt den Gewalttätigen natürlich in die Hände. Aber der Schock über diese Ausmaße ist groß. Und mit dem Nakba-Tag heute, dem jährlichen Gedenktag an die Flucht und Vertreibung aus Palästina, sind weitere Demonstrationen zu erwarten. Die Furcht vor den langfristigen Folgen für das Zusammenleben sind groß. Vorgestern haben in vielen Städten Juden und Araber daher gemeinsam gegen die Gewalt demonstriert.
Vorausgesetzt, beide Seiten einigen sich tatsächlich auf einen Waffenstillstand: Wie könnten dann nächste Schritte aussehen?
Zunächst ist es wichtig, dass möglichst bald ein Waffenstillstand erreicht wird. In der derzeitigen Situation erwarte ich nicht, dass bald Friedensverhandlungen aufgenommen werden, die eigentlich notwendig wären, um die Ursachen des Konflikts zu regeln. Aber zumindest könnte als erster Schritt ein langfristiger Waffenstillstand verhandelt werden, der Ruhe bringt und den Menschen im Gazastreifen auch ökonomische Perspektiven ermöglicht.
Mit Steffen Hagemann sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de
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