Ein Kaltgetränk im Biergarten schlürfen, den Strandkorb an der Ostsee beziehen, mit den Kindern in der Ferienwohnung Karten spielen: Was wie eine Utopie einer längst vergangenen Zeit der Sorglosigkeit klingt, könnte bald bundesweit Realität werden. Die Infektionslage in Deutschland entspannt sich. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt unter 100. Der R-Wert ist unter 1. Die Belegung auf den Intensivstationen ist zwar nach wie vor auf einem hohen Niveau, aber die Zahl der Toten sinkt stetig. Sind das die Zutaten, um endlich den Lockdown hinter sich zu lassen?
Die Gäste bei Anne Will sind da unterschiedlicher Meinung. "Beginnt jetzt die große Leichtigkeit oder der große Leichtsinn?", fragt die Talkmasterin am Sonntagabend. Als erstes darf die Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Carola Holzner, antworten. Sie nimmt den Enthusiasten den Wind aus den Segeln: "Es ist noch nicht Zeit, jetzt alles fallen zu lassen, die Konfettikanonen zu zünden und zu sagen: Die Pandemie ist vorbei." Als einen besorgniserregenden Faktor nennt sie die indische Variante, die hoch ansteckend und bereits auf dem Vormarsch sei. "Das dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen."
Der von Moderatorin Will als "Vorsitzender des Teams Vorsicht" vorgestellte Peter Tschentscher pflichtet dem qua Amt bei. Er sei aber optimistischer als noch vor ein paar Wochen, sagt der Erste Bürgermeister Hamburgs. "Was uns wirklich insgesamt in Deutschland geholfen hat, ist diese starke einheitliche Notbremse." Die bundesweit geltenden Regeln ab einer Inzidenz von 100 hätten "eine sehr große Wirkung gezeigt".
Der Sozialdemokrat muss sich in der Runde Kritik dafür gefallen lassen, dass sein Bundesland trotz niedriger Inzidenz nur zögerlich lockert - etwa erst über das Öffnen der Außengastronomie nachdenkt. Es gebe nun mal einen schmalen Grat zwischen Leichtigkeit und Leichtsinn, so Tschentscher. Deswegen müssten das Infektionsgeschehen beobachtet werden und Öffnungsschritte kontrolliert sein. Es gehe darum, "dass wir einen Sommer erleben, der wieder mindestens so ist, wie im letzten Jahr. Dass man wieder innerhalb Deutschlands reisen kann."
Der Flickenteppich ist wieder präsent
Solche Sätze hört Ingrid Hartges vermutlich gerne, obgleich sie schon im Hier und Jetzt gerne mehr Möglichkeiten hätte. Als Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) vertritt sie eine Branche, die besonders unter dem Lockdown leidet. Oder, wie Hartges es formuliert, ein Sonderopfer bringt, weil Hotels und Restaurants trotz ausgeklügelter Hygieneregime weiter geschlossen bleiben. Dabei seien diese Orte keine Pandemietreiber. Es gehe zwar nicht darum, um jeden Preis zu öffnen, aber für die drei Gs (Geimpfte, Genesene und Getestete) hält Hartges einen Betrieb in Hotels und Gaststätten für verantwortbar - noch vor dem Sommer.
Die Dehoga-Funktionärin bekommt Unterstützung aus zwei politischen Lagern, die ansonsten nicht viel gemeinsam haben. FDP-Vize Wolfgang Kubicki beruft sich auf die gesetzlichen Regelungen, die eine Aufhebung der Maßnahmen spätestens aber einer Inzidenz unter 35 vorsehen. Er führt die steile These auf, das Gesundheitssystem sei nicht überlastet, und fragt: "Was darf der Staat seinen Bürgern noch zumuten?" Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, bescheinigt seinem politischen Gegner: "Niemand, glaube ich, ist in dem Land für Leichtsinn, (…) selbst Herr Kubicki nicht und der ist schon mal sehr mutig. Aber für Leichtsinn wäre der auch nicht."
Bartsch sieht das Problem nicht bei den Regeln per se, sondern vor allem bei deren uneinheitlicher Umsetzung. Warum etwa Urlaub in Kubickis Schleswig-Holstein wieder möglich ist, die Landesregierung in seinem Heimatbundesland Mecklenburg-Vorpommern aber sehr strikt vorgeht, könne er nicht verstehen. Da ist er wieder: der Flickenteppich. Die Einheit, die die Bundes-Notbremse zumindest im Fall von hohen Inzidenzen geschaffen hat, zerbröselt bei den Öffnungsschritten wieder an den Grenzen der Bundesländer.
Während Regierungschef Tschentscher nicht gelten lassen will, dass die Gnade des jeweiligen Ministerpräsidenten oder der Ministerpräsidentin darüber entscheidet, welche Regeln gelten (das sei eine "Frage der vernünftigen Beurteilung verschiedener Faktoren"), bringt es Kubicki so auf den Punkt: "Wenn wir zu dieser Kleinstaaterei zurückkehren, dann Gnade uns wirklich Gott." Dass in einzelnen Bundesländern länger mit Lockerungen gewartet wird als eigentlich laut Inzidenz nötig, halte er für rechtswidrig, so der FDP-Politiker - auch mit Blick auf Hamburg. "Der Verfassungsgeber hat uns den Auftrag erteilt, möglichst schnell zur Normalität zurückzukehren."
Unzureichende Tests, nicht genug Impfstoff
Doch unter welchen Voraussetzungen kann das umsichtig gelingen? Zwei verheißungsvolle Instrumente geben darauf nur bedingt eine Antwort. Zum einen sind da die Antigen-Schnelltests, die tagesaktuelle Freiheiten ermöglichen, aber nicht so sicher sind, wie sie sollen. Anne Will zitiert den Virologen Christian Drosten, wonach dadurch eine Corona-Infektion an fünf von acht Tagen entdeckt wird, an drei Tagen aber nicht. Drei Tage, in denen eine getestete Person womöglich andere Menschen ansteckt.
Zum anderen geben die Impfungen zunehmend Hoffnung. Doch in einer Handvoll Bundesländer weckt die Aufhebung der Priorisierung Begehrlichkeiten, die noch nicht erfüllt werden können. Es gibt schlicht nicht genügend Stoff für alle Impfwilligen. Wer die Vakzine gespritzt bekommt, liegt zum Teil im Ermessen der Länder und auch der jeweiligen Hausärzte, die nach eigenen Kriterien entscheiden, welcher ihrer Patienten als erstes an die Reihe kommt. Bis allen Berechtigten ein Angebot gemacht werden kann, wird es noch Monate dauern. Eine wichtige Säule für mehr Leichtigkeit steht also noch nicht.
Und jetzt? Sind die zum Teil schon begonnenen Öffnungsschritte gerechtfertigt? Darauf gibt es in der Talkshow keine abschließende Antwort. Die kann es in einer Pandemie, die von Unwägbarkeiten und neuen Entwicklungen bestimmt ist, wohl auch nicht geben. Für Carola Holzner, die als "Doc Caro" in den sozialen Netzwerken zahlreiche Menschen erreicht, steht eins jedoch fest: Sie fährt diesen Sommer nicht in den Urlaub. Als in der Öffentlichkeit stehende Person, die für die Einhaltung der Regeln plädiere, könne sie das nicht mit sich vereinbaren. "Ich bleibe mit meinem Hintern zu Hause", sagt sie. Team Vorsicht gewinnt.
Quelle: ntv.de
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