Forscher rätseln über Hirnvenenthrombosen

  02 Juni 2021    Gelesen: 729
  Forscher rätseln über Hirnvenenthrombosen

Vor ihrem seltenen Auftreten nach bestimmten Corona-Impfungen hatten nur wenige Menschen etwas von Hirnvenenthrombosen gehört. Nun diskutieren auch medizinische Laien wissenschaftliche Studien zu dem Thema. Doch das Thema ist kompliziert.

Warum verursacht der Impfstoff Vaxzevria von Astrazeneca in sehr seltenen Fällen Thrombosen im Gehirn? Dazu kursieren verschiedene Hypothesen, eine eindeutige Antwort gibt es noch nicht. "So funktioniert Forschung", sagt Carsten Watzl, der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. "Es gibt ein Problem. Dann werden Theorien aufgestellt. Die muss man dann prüfen und am Ende sehen, was davon übrig bleibt." Die Corona-Pandemie hat solche Diskussionen in die Öffentlichkeit geholt - das Interesse ist gewaltig. Laien können dadurch dabei sein, wie sich Fachleute einem Problem nähern. Das kann spannend, aber auch verwirrend sein, wie das Vaxzevria-Beispiel zeigt.

Die Ausgangslage

Vaxzevria führt in sehr seltenen Fällen zu Thrombosen im Gehirn. Es geht um das "Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrom" (TTS), bei dem es zu Blutgerinnseln mit gleichzeitig niedrigem Blutplättchenspiegel kommt. Dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zufolge wurden bei rund 8,5 Millionen verabreichten Impfdosen bis 25. Mai 94 Fälle von TTS in Deutschland gemeldet, 17 Menschen starben. Zwei Drittel der Betroffenen sind jünger als 60. Deshalb wird der Impfstoff für Menschen unter 60 nicht mehr empfohlen. Das Gleiche gilt für das Mittel von Johnson & Johnson, nachdem in den USA Thrombose-Fälle aufgetreten sind. In Deutschland gibt es laut PEI bislang noch keine TTS-Meldungen bei Johnson & Johnson, allerdings wurden bei uns bislang vergleichsweise wenig Dosen des Impfstoffs verabreicht.

Eine Hypothese

Zunächst war völlig unklar, warum die Impfungen zu TTS führen können. Auffällig war, dass die Nebenwirkungen bei den beiden zugelassenen mRNA-Impfstoffen nicht vermehrt vorkommen, sondern nur bei den Vektorimpfstoffen von Astrazeneca und Johnson & Johnson. Als einer der Ersten stellte Andreas Greinacher von der Universitätsmedizin Greifswald eine Theorie vor, die vereinfacht gesagt so geht:

Bestimmte Bestandteile des Vektorimpfstoffs scheinen an das Protein "Plättchenfaktor 4" zu binden, das auf der Oberfläche der Blutplättchen (Thrombozyten) sitzt. An diesen Komplex können bestimmte fehlgeleitete Antikörper binden, die als Folge einer durch die Impfung ausgelösten Entzündungsreaktion im Körper unterwegs sind. Diese Verbindungen führen dazu, dass die Blutplättchen verklumpen. Es entstehen Blutgerinnsel (Thrombosen) im Gehirn mit einem gleichzeitigen Mangel an freien Blutplättchen (Thrombozytopenie).

Noch eine Hypothese

Vor wenigen Tagen stellte eine Gruppe um Rolf Marschalek von der Goethe-Uni in Frankfurt eine weitere Hypothese vor. Grob zusammengefasst geht sie davon aus, dass es bei der Reaktion der menschlichen Zellen auf den Impfstoff zu Komplikationen kommt. Die Vektorimpfstoffe enthalten wie die mRNA-Impfstoffe auch Viren-Erbgut - wenn auch in anderer Form. Mit diesen Erbgut-Abschnitten sollen die menschlichen Zellen dann das sogenannte Spike-Protein des Virus herstellen und an ihrer Oberfläche präsentieren. Das löst dann eine Immunantwort aus, die uns vor eine Corona-Infektion schützen soll.

Bei der beschriebenen Komplikation - die so bei mRNA-Impfstoffen gar nicht möglich wäre - bleibt das Virus-Protein aber nicht an die Zelle gebunden, sondern schafft es in den Blutkreislauf. Dort kann es an die Wand der Blutgefäße binden, eine Entzündungsreaktion hervorrufen und so zur Entstehung von TTS beitragen.

Marschalek und sein Team glauben, dass der Vektorimpfstoff so angepasst werden kann, dass die Komplikation bei der Verarbeitung des Impfstoffs unterbunden wird. "Ja, das ist wahrscheinlich möglich", sagt dazu Immunologe Watzl. "Ob das dann aber auch tatsächlich die Nebenwirkung verhindert, müsste man sehen."

Wie passt das zusammen?

Die verschiedenen Hypothesen müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. "Vermutlich ist die tatsächliche Ursache eine Kombination der bisherigen Theorien. Eine allein kann TTS bislang nicht erklären", sagt Watzl. Auch Greinacher hält es für möglich, dass beide Effekte eine Rolle spielen. So könnten die löslichen Spike-Proteine aus der Marschalek-Hypothese möglicherweise erst dann zum Problem werden, wenn es gleichzeitig die fehlgeleiteten Antikörper aus der Greinacher-Theorie gibt. Bislang ließen sich die Hypothesen aber nur schwer überprüfen, meint Watzl. Es gebe noch kein Tiermodell und Tests mit einem veränderten Impfstoff würden Hunderttausende Probanden erfordern, da die TTS so selten seien.

Die Sache mit den Verunreinigungen

Ein weiteres Puzzle-Stück sind Verunreinigungen durch Proteine, die Ulmer Forscher im Astrazeneca-Impfstoff gefunden haben. Wobei solche Proteine in dem Impfstoff mehreren Experten zufolge zu erwarten waren. Der Virologe Stephan Becker sagt sogar: "Man kann solche Untersuchungen anstellen, doch bringen sie uns nicht wirklich weiter. Sie beschreiben einen Zustand, der ziemlich normal ist. Daher verunsichern solche Studien meines Erachtens nur." Ob es einen Zusammenhang zwischen den Verunreinigungen zu Impfreaktionen gibt, könne man nicht beantworten, teilten die Ulmer Forscher mit. Greinacher wiederum glaubt, dass die Verunreinigungen ein - wenn auch nicht der einzige - Risikofaktor für TTS sind, weil sie die Entzündungsreaktion direkt nach der Impfung verstärken.

Aus Hypothesen leiten sich weitere Hypothesen ab

Und weitere Theorien machen das Bild noch komplexer. So warnt Greinacher im Gespräch mit "Zeit Online" mit Blick auf TTS davor, den Impfabstand bei Astrazeneca von 12 auf vier Wochen zu verkürzen. Denn die von ihm beschriebenen fehlgeleiteten Antikörper werden in der Regel innerhalb von 3 Monaten abgebaut. Bei einem kürzeren Impfabstand kann die Situation entstehen, dass unbemerkt gebildete Antikörper nach vier Wochen noch nicht abgebaut und noch aktiv sind und dann die zweite Impfung die Reaktion verstärken könnte. Mehrere andere von "Zeit Online" befragte Experten betonten allerdings, dass es bisher keine Daten gebe, die diese Überlegung untermauern.

Kritik an der öffentlich geführten Debatte

Dass die Diskussion über die verschiedenen Hypothesen in der breiten Öffentlichkeit stattfindet, kann eine Chance für Laien sein, Interesse wecken und Vertrauen in die Forschung stärken. Doch auch der umgekehrte Fall ist denkbar. So hat der Immunologe Watzl einen eher kritischen Blick. "Es wird unter Experten gestritten. Das ist normal. Wissenschaftler können mehrere Hypothesen auch über längere Zeit nebeneinander stehen lassen." Laien könnten das aber falsch verstehen und denken, dass selbst Forscher nicht mehr durchblicken. Die Diskussion solcher frühen Hypothesen sei nichts Geheimes, sagt Watzl. "Aber es bringt die Allgemeinheit nicht weiter und verunsichert im schlimmsten Fall."

Quelle: ntv.de, Valentin Frimmer, dpa


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