Vor genau einer Woche nun hat Franziskus den ersten Knoten in „seine“ Sache gemacht. Unterzeichnet hat er ein für ihn außergewöhnlich langes Papier, in dem er die Ergebnisse von zwei Jahren Synodenberatung als Stand der Lehre zu Ehe und Familie festschreibt. Erst das „Stürmen“, jetzt der Stand, und dieser auch noch festgeschrieben. Nur das Erste davon passt, so weit ihn die Welt kennengelernt hat, zu Franziskus. Er hat eine Allergie, zumindest aber eine unheilbare Skepsis gegenüber allem Festgeschriebenen, das die Fülle des menschlichen Lebens in ein Schema erdachter Lehrsätze zwingt. Schon aus diesem Grund wird das postsynodale Schreiben, das nach offensichtlich mühevollem Verfertigen der Übersetzungen Mitte April erscheinen soll, anders ausfallen als das, was man bisher gewohnt ist.
„Keine Irrlehren“
Gewiss bekräftigt Franziskus, er sage „nichts anderes, als die Kirche immer gesagt hat“. Gewiss lässt die Glaubenskongregation unter ihrem Präfekten, Gerhard Ludwig Müller, durchsickern, sie habe eine große Zahl von Änderungen bewirkt. Es stünden – dies nur zur aktuellen vatikanischen Wetterlage – „keine Irrlehren“ im Schreiben des Papstes, grinste ein Hierarch, „und wenn, dann hat man sie herausgestrichen“.
Das Schreiben jedenfalls, so sagt man in Rom, wird gerade bei den strittigsten Themen – Sakramente für wiederverheiratete Geschiedene zum Beispiel – dialektisch ausfallen. Als auslegungsoffen übersetzen das die einen, als spaltungsoffen die anderen. Jedenfalls kann es im Ton und in der menschlichen Annäherung an das wirkliche Leben nicht hinter das zurückfallen, was die etwa 250 Synodenbischöfe als leisen Fortschritt erzielt haben und Franziskus mit seinem Vorrang der Barmherzigkeit vor dem Moralismus meint: Die Kirche wird in der Vielfalt menschlichen Zusammenlebens nicht mehr von irregulären Verhältnissen sprechen, sondern selbst in Partnerschaften, die ihr bisher suspekt vorgekommen sind, mit „überraschungsoffenem Zuhören“ versuchen herauszufinden, was sich darin zumindest als „graduelle Verwirklichung“ des klassischen, in lebenslang unauflöslicher Ehe zusammengeschweißten Vater-Mutter-Kind-Modells findet.
Rückgriff auf Benedikt XVI.
Von diesem Punkt an kann man zur Ehe in Vollgestalt hinführen; aber prinzipiell beginnt dieser Prozess nicht länger mit einer Verurteilung. Er muss nach Franziskus selbst dann „einfühlsame Begleitung“ sein, wenn die Kirche meint, sündiges Verhalten diagnostizieren zu müssen. Denn nichts ärgert diesen Papst mehr als „der Hochmut und die Selbstgerechtigkeit, die fixen Ideen und die Vorurteile“ der Priester, „Heuchelei der Lehrwächter“, „Klerikalismus, diese Einstellung all jener, die sich rein fühlen“, „der Versuch, alles mit Denkschemata zu regeln, statt sich von der Wirklichkeit überraschen zu lassen“.
Von einem guten Beichtvater verlangt Franziskus in seinem neuesten, unglaublich klaren Interviewbuch, „dass er an seine eigenen Sünden denken möge, dass er mit Milde zuhört, dass er den Herrn bittet, ihm ein mitfühlendes Herz zu schenken wie das Seine. Dass er nie den ersten Stein wirft, weil auch er ein Sünder ist, der der Vergebung bedarf. Und dass er versuchen möge, Gott in seiner Barmherzigkeit ähnlich zu werden.“
Das Buch, aus dem diese Zitate stammen, heißt „Gottes Name ist Barmherzigkeit“. Rechtgläubigen gegenüber, die ihm eine Verwässerung der Lehre in einer über alles unterschiedslos gegossenen, süßlichen Barmherzigkeitssoße vorwerfen, hält Franziskus durchaus selbstbewusst fest: Das habe nicht ich erfunden, das lehrt die Kirche. Ein Gegensatz zwischen Dogma und Barmherzigkeit existiert nicht. „Gottes Name ist Barmherzigkeit“, schon der Buchtitel ist ein Zitat – von Benedikt XVI. Die Wahl dieses Zitats war geistlich ebenso ernst gemeint wie politisch klug: als Rückbezug auf einen, der unter Franziskus-Gegnern als Anker der Rechtgläubigkeit gilt. Franziskus ist alles andere als naiv.
Dass die Unterschiedlichkeit in der Akzentuierung von Barmherzigkeit zwischen den beiden Päpsten so stark auffällt, hat nicht nur damit zu tun, dass Franziskus unausgesetzt von ihr redet, während sie für Benedikt ein Thema unter vielen war. Benedikt bekam den Ruf Joseph Ratzingers als eines Panzerkardinals nicht los, da wirkte die Barmherzigkeit aufgesetzt. Benedikt kam aus der Studierstube; die Welt nahm er aus Büchern und Zeitungen wahr, aus Analysen, die er wiederum analysierte. Franziskus kommt aus den Plaudereien beim Zeitungholen – und er kommt aus dem Beichtstuhl.
Seine Dogmatik nährt sich von menschlichen Begegnungen. Und er kehrt die Perspektive um. Wo Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die Welt in Ismen schubladisiert und gegen diese echten oder vermeintlichen Ideologien gewettert haben, nimmt Franziskus die Perspektive der Opfer ein. Ausdrücklich tut er das bei Benedikts Lieblingsthema, der „Diktatur des Relativismus“. Die Menschheit heute, sagt Franziskus, sei vielfältig verwundet: „Auch der Relativismus verwundet die Menschen. Alles scheint gleich, alles scheint dasselbe zu sein. Diese Menschheit braucht Barmherzigkeit.“
Zur Verwundbarkeit der heutigen Zeit, sagt Franziskus, gehöre ja auch das: „Der mangelnde Glaube daran, dass es Erlösung gibt, eine Hand, die uns aufhebt, eine Umarmung, die uns rettet, die uns mit unendlicher Liebe überschwemmt, geduldig und nachsichtig. Die uns wieder in die Spur setzt.“ Es fehle die „Erfahrung der Barmherzigkeit“. Nicht die theologisch-theoretische Einsicht wohlgemerkt, an deren wohlgesetzter Formulierung war in der Kirche ja kein Mangel, aber „die konkrete Erfahrung“.
So nahbar wie keiner
Vielleicht rührt es ja daher, dass Franziskus` Konzept von Barmherzigkeit anders wahrgenommen wird. Wenn er von Zärtlichkeit und Umarmung spricht, meint er das nicht (nur) metaphorisch und rituell eingehegt, er macht das körperlich und lässt es mit sich machen. So nahbar – „Lasst uns normal bleiben!“, sagte er am Anfang seiner Amtszeit – war noch kein Papst. Und wenn es um menschliche Zuwendung geht, dann sprengt er das Zeremoniell.
Bei der Fußwaschung am Gründonnerstag hat er es schon mehrfach getan. Er hat den Ritus aus der Atmosphäre von Weihrauch und Orgelklang zu konkreten Menschen hinaustransportiert, die – aus der Insidergemeinde des Petersdoms ausgeschlossen – Bedarf an konkreter Zuwendung haben: zu Strafgefangenen, zu Menschen im Pflegeheim, zu Flüchtlingen in diesem Jahr. Unerhört für die aus Männern bestehenden Hüter der reinen Liturgie hat er einer Frau die Füße gewaschen. Doch kaum hat er sich das nachträglich sanktioniert – per Änderung des Messbuchs, im Januar dieses Jahres –, geht Franziskus schon wieder einen Schritt weiter. Auf „Mitglieder des Volkes Gottes“ bezog sich die Erweiterung des Ritus. Unter den elf Flüchtlingen von diesem Gründonnerstag waren auch drei Muslime und ein Hindu. Franziskus ist eben da, wo er es für nötig hält.
Es sind die persönlichen Begegnungen, auf deren Wirkung Franziskus auch als Papst, der er im Lauf der vergangenen drei Jahre erst geworden ist, viel stärker zählt als auf Dialogkommissionen und den Austausch von Dokumenten. Lange Jahre hat der vatikanische Ökumene-Rat geklagt, wie schwierig es sei, mit den gerade in Lateinamerika stürmisch wachsenden evangelisch-evangelikalen Pfingstkirchen ins Gespräch zu kommen. Und Franziskus? Er kennt da einen von ihnen, der im italienischen Caserta lebt und den er schnell besuchen fährt, unbekümmert darüber, dass er im Eifer des Gefechts den protokollarisch unumgänglichen Besuch beim katholischen Ortsbischof vergessen hat. Aus Argentinien kann Bergoglio auf einen jüdischen Rabbiner und einen islamischen Imam als langjährige persönliche Freunde zählen – das hat ihm als Papst viele Türen geöffnet. Aus Zeiten in Buenos Aires schätzt ihn auch der heutige Erzbischof der griechisch-katholischen Kirche in der Ukraine, Swjatoslaw Schewtschuk. Jener glättete zu Hause die Wogen, als Franziskus sich im Februar mit Patriarch Kirill, dem kirchlichen Oberhaupt des russischen „Erzfeindes“, traf.
Und dann sind da die Begegnungen des Pfarrers Franziskus, an denen sich Regeln brechen, über die er auch als Papst nicht hinwegkommt. „Er hat drum herumgedruckst, wieder mal nichts Klares gesagt.“ Das waren die Reaktionen auf einen kurzen Wortwechsel, den Franziskus bei seinem Besuch in der lutherischen Kirche von Rom im Herbst 2015 mit einer evangelischen Frau hatte. Sie hatte von dem Schmerz gesprochen, mit ihrem katholischen Ehemann nicht gemeinsam zum Abendmahl gehen zu dürfen. Was sie tun könne?
„Da habe ich Angst!“
Franziskus geriet kurz ins Schleudern: eine so komplizierte theologische Frage! Und auf sie sollte er spontan antworten, in Anwesenheit von so großen Ökumene-Theologen wie Kardinal Walter Kasper? „Da habe ich Angst!“, sagte er. Dann aber gab er eine Antwort, die keine hochmögende Dialogkommission so hinbekommen hätte. Er überlegte laut: Evangelische und Katholische – haben wir nicht die gleiche Taufe? Haben wir nicht das gleiche Bewusstsein für Sünden und den vergebenden Herrn? Und was ist, wenn wir im Abendmahl an dessen Anwesenheit glauben, auch wenn diese konfessionell unterschiedlich gedeutet wird? Dann schloss Franziskus: „Das Leben ist größer als Erklärungen und Deutungen. Nehmt immer auf die Taufe Bezug: ,Ein Glaube, eine Taufe, ein Herr‘, sagt uns Paulus. Zieht von daher die Schlussfolgerungen. Ich werde nie wagen, Erlaubnis zu geben, dies zu tun (gemeinsam zu kommunizieren; Anm. d. Red.), denn das ist nicht meine Kompetenz. Eine Taufe, ein Herr, ein Glaube. Sprecht mit dem Herrn und geht voran. Ich wage nicht mehr zu sagen.“
Vor fünfzig Jahren hat das Zweite Vatikanische Konzil formuliert: „Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum des Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme (und dessen Gesetz) in diesem seinen Inneren zu hören ist.“ Franziskus hat das Gewissen und dessen Würde in einer Weise rehabilitiert, wie es seither – im vatikanisch-amtlichen Misstrauen gegen die moderne Welt und deren Menschen – nicht mehr üblich war. Das mindert die Ansprüche an den Menschen und dessen Verantwortungsbewusstsein nicht. Im Gegenteil: Es erhöht sie. Wer Franziskus leichtfertig lobt, muss sich auch dessen Anforderungen stellen. Doch auch, wer ihn kritisiert, kann sich davor nicht davonstehlen.
Vor drei Jahren sah es so aus, als liefe Franziskus wie auf Schienen, als verwirklichte er ein Papstprogramm, wie es lateinamerikanische Theologen für einen möglichen Ersten aus ihren Kreisen skizziert hatten. Später, unter Naserümpfen von Freunden ruhiger Ordnung, von Fachtheologen und Kirchenrechtlern, zeigte sich: Es war nicht alles so durchdacht. Es gab allzu spontane Entscheidungen; Kommissionen überlagerten sich, die Reform der Kurie kommt nicht recht voran. „Er macht die Dinge, wie es ihm in den Kram passt; das ist nicht einfach für einen Organismus, der in sich verwoben ist. Und immer wieder sind dann einfach drei Wochen unserer Arbeit für die Katz“, stöhnt einer aus der Kurie.
Franziskus selbst gibt oftmals zu, dass er nicht exakt weiß, wohin sein Kurs führt und was insgesamt das Ziel sein wird. In einem aber ist er sich ganz sicher: dass die Kirche in Bewegung gebracht werden muss, stürmisch, im Brainstorming, in allgemeiner Anstrengung, und dass sich „beim Gehen der Weg schon zeigen wird“. Franziskus` Vertrauen auf den Heiligen Geist ist darin unerschütterlich. Und er erinnert an einen Satz des 33-Tage-Papstes Johannes Paul I.: „Die Wahl, sagte dieser, sei auf ihn gefallen, weil Gott eben manche Dinge nicht in Stein meißelt oder in Bronze gießt, sondern sie lieber nur in den Staub schreibt.“
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