Bundeskanzler Olaf Scholz charakterisierte den Überfall Russlands auf die Ukraine als "Zeitenwende". Europa wurde zur Gegenwehr gezwungen: Die EU-Mitgliedstaaten verhängten in ungewohnter Einigkeit einschneidende Sanktionen für Unternehmen und Privatpersonen in Russland, die das Land stark von internationalen Handels- und Finanzströmen abgeschnitten haben. Öl- und Gasimporte aus Russland blieben indessen mit Rücksicht auf die Versorgungslage vor allem hierzulande bislang weitestgehend außen vor. Eine nochmalige Sanktionsverschärfung, gegebenenfalls ein einseitiger Stopp der russischen Energielieferungen nach Deutschland drohen, eine Verlängerung des Krieges ebenso. Die Folgen für die deutsche Wirtschaft und vor allem für die heimische Automobilindustrie wären katastrophal.
Denn schon jetzt ist die Lage der deutschen Autoindustrie ernst, sehr ernst sogar. Die Gefährdungslage hat sich substanziell verändert. Zwar kündigte sich ein Ende des freien Welthandles mit allen schädlichen Wirkungen auf eine so stark exportabhängige Branche bereits zu Zeiten von US-Präsident Donald Trump mit all den Schikanen, Handelsembargos und Sonderzöllen an. Damit wurde die deutsche Schlüsselindustrie aber fertig. Da war Zeit und Raum für geordnete und beherrschbare Standortmaßnahmen.
Doch diesmal hat die Gefährdung eine andere Qualität: Schiebt man die PR-Presseverlautbarungen der Hersteller über Rekordgewinne im Jahr 2021 und gigantischer Investitionsprogramme einmal beiseite und hört auf den "Flurfunk" in den Konzernzentralen, ergibt sich ein völlig anderes Bild. Nie in der Nachkriegszeit - selbst während der Ölkrisen und Sonntagsfahrverbote nicht - war die gesamt Branche, über die ganze Wertschöpfungskaskade hinweg, so nahe am kollektiven Kollaps wie derzeit.
Die Krux mit den Kabelbäumen
Ursache ist ein Materialmangel nie gekannten Ausmaßes - im Brennpunkt stehen Kabelbäume aus der Ukraine - und teilweise auch ein Mangel an seltenen Rohstoffen wie etwa dem Edelgas Neon. Mag letztere Lücke noch irgendwie überbrückbar erscheinen, führt die fortschreitende Unterbrechung der Zulieferung von Kabelbäumen zu einer einzigartigen Bedrohung der gesamten automobilen Wertschöpfungskette hierzulande. Die Wachstumsprognosen für die gesamt Wirtschaft wurden bereits drastisch reduziert.
Kabelbäume aus der Ukraine sind gegenwärtig für die deutsche Autoproduktion unverzichtbar. Die Lage ist dabei wesentlich brisanter als im Vorjahr, als zunehmende Lieferengpässen aus Asien bei den strategisch ebenfalls wichtigen Speicherchips auch temporär zu Produktionsunterbrechungen bis hin zu zeitweiligen Werkschließungen und Kurzarbeit geführt haben. Aber das waren eben nur Lieferengpässe, keine totalen Lieferausfälle, wie sie sich gegenwärtig bei den Kabelbäumen aus der Ukraine abzeichnen. Dieser drohende Totalausfall geht an die Substanz der Branche, denn Kabelbäume sind keine Standardware, sondern hersteller- und modellspezifisch, Kundenwünschen entsprechend maßgeschneidert. Kabelbäume sind zudem nicht nachrüstbar: Sind sie nicht vorhanden, können Autos nicht gebaut werden und die gesamte Wertschöpfungskette steht still.
Und wieder etwas gelernt
Alternative Beschaffungsquellen stehen Umfragen zufolge kurzfristig keinem deutschen Hersteller offen. Selbst wenn Kabelbäume außerhalb der Ukraine gefertigt werden könnten, reichten die Kapazitäten nicht aus - kurzfristige Aufstockung sind absolut ausgeschlossen.
Dem Vernehmen nach bezieht die deutsche Autoindustrie als Ganzes 80 Prozent ihrer Kabelbäume aus der Ukraine, einzelne Hersteller sogar 100 Prozent. Der Grund: In den vergangenen Jahren wurde die gesamte Kabelbaumproduktion aus Nordafrika abgezogen und wegen der niedrigen Stundenlöhne von durchschnittlich etwa zwei Euro in die Ukraine verlagert. Eine kurzfristige regionale Rückverlagerung ist ausgeschlossen. Und langfristig? "Langfristig sind wir alle tot", wie schon Maynard Keynes zu sagen pflegte.
Sollten die Lieferungen aus der Ukraine innerhalb der nächsten Wochen völlig zum Erliegen kommen, steht die Produktion in den deutschen Autofabriken über die gesamte Wertschöpfungskette hin still. Die Folgen für Wachstum und Beschäftigung sind nicht absehbar.
Zusätzlich gibt es Probleme im Logistik- und Transportgewerbe. Der Krieg in der Ukraine sorgt europaweit für Lieferprobleme. Rund 100.000 ukrainische Lkw-Fahrer waren vor der Invasion Russlands im europäischen Warenverkehr unterwegs. Allein sieben Prozent aller deutscher Lkw wurden von ukrainischen Fahrern gesteuert. Damit steht nicht nur die Zulieferung von Teilen in die Autoindustrie, sondern die gesamte Versorgung Deutschlands auf dem Spiel. Ein rasches Ende des Krieges ist also nicht nur aus ethisch-humanitären Gründen dringend erforderlich. Anderenfalls droht eine Vollbremsung der ganzen deutschen Autoindustrie.
Doch etwas Gutes kann das Lieferdebakel auch mit sich bringen - die Erkenntnis, dass Risikobewusstsein und Risikoabwägung sowie das Denken in Vorsichtskategorien bei Management- und Logistik-Entscheidungen wieder einen höheren Stellenwert einnehmen sollten. Das Motto "Strom kommt aus der Steckdose und Teile sind im Zuge der Globalisierung immer und überall zu niedrigsten Kosten problemlos erhältlich" hat ausgedient!
Quelle: ntv.de
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