Rettungsaktion für krebskranke Kinder

  03 April 2022    Gelesen: 530
  Rettungsaktion für krebskranke Kinder

Eine italienische Hilfsorganisation pendelt seit Kriegsbeginn zwischen der Ukraine und Italien, um krebskranke Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Präsident erzählt vom Drama und dem unsäglichen Leid, das Russland diesen Kindern zufügt.

Auf dem Video, das Damiano Rizzi auf dem Handy abspielt, sieht man das Untergeschoss eines Krankenhauses. In einem Flur sind man Mütter mit ihren Kindern. Einige Kinder, darunter auch sehr kleine, hängen an einer Tropfinfusion. Sie haben Krebs. "Fünf Tage mussten sie in diesem Untergeschoss ausharren, bevor wir sie aus Kiew evakuieren konnten", erzählt Rizzi ntv.de. Er ist onkologischer Psychotherapeut und Präsident der italienischen NGO Soleterre. Diese 2002 gegründete Hilfsorganisation kümmert sich besonders in armen oder vom Krieg heimgesuchten Ländern um krebskranke Kinder. In der Ukraine arbeitet die Hilfsorganisation seit 2003 - in Kiew im Nationalen Krebsinstitut, in Lwiw und seit kurzem auch in der Stadt Ternopil.

Rizzi ist ein stattlicher Mann um die 50, er hatte schon unzählige Male mit dramatischen Situationen zu tun, in Uganda, im Südsudan, in Burkina Faso, in der Elfenbeinküste, in Marokko. In all diesen Ländern arbeitet Soleterre. Abgebrüht ist er dennoch nicht, man merkt, wie ihn das Video von den Kindern im Untergeschoss berührt. Er selber hat an der Evakuierung teilgenommen. Von der Hauptstadt brachte man die Kinder und Mütter mit dem Zug nach Lwiw und von dort mit dem Bus über die Grenze nach Polen, zum Flughafen in Rzeszów. Die Väter dürfen, trotz der Krankheit ihrer Kinder, die Ukraine nicht verlassen. Begleitet werden die Flüge von einem Arzt und einem Psychologen. Mittlerweile wurden 50 Kinder nach Italien gebracht, weitere 20 kamen auf eigene Faust, "manchmal in kleinen, schrottreifen Bussen und mit völlig erschöpften Fahrern", erzählt Rizzi. Jetzt sind sie, je nach Tumor, auf spezialisierte Krankenhäuser in ganz Italien verteilt.

Im San-Matteo-Krankenhaus in Pavia, einer Universitätsstadt 45 Kilometer südlich von Mailand, befinden sich sieben dieser Kinder. Sie sind zwischen 5 und 17 Jahre alt. Hier, im obersten Stockwerk der onkologischen Kinderstation, findet auch das Gespräch mit Rizzi statt. Neben den Ärzten, die diese Kinder betreuen, setzt sich das Team aus Ukrainisch sprechenden kulturellen Vermittlern, wie man sie hier nennt, und einer ukrainischen Psychologin zusammen. Die Mütter werden mit den Kindern aufgenommen. Für eine Mutter und ihr Kind wurde eine Wohnung gemietet, da dessen Behandlung keinen Krankenhausaufenthalt erfordert.

Mittlerweile 500 kleine Patienten ausgeflogen

Das Evakuierungsmodell von Soleterre hat mittlerweile weltweit Schule gemacht, wie ein Schreiben des St. Jude's Children Hospital in Memphis, Tennessee, an Rizzi unlängst bestätigte. Stand Ende März behandelt die weltweit für Tumorerkrankungen bei Kindern bekannte Klinik acht Patienten aus der Ukraine. Auch andere Hilfsorganisationen folgen dem italienischen Beispiel. Mittlerweile wurden insgesamt 500 krebskranke Kinder aus der Ukraine zur Weiterbehandlung in verschiedene Länder gebracht, auch in deutsche Krankenhäuser.

"In einem Land wie der Ukraine ist es schon in normalen Zeiten unglaublich schwer für eine Familie, die Mittel für die chemotherapeutische Behandlung aufzubringen", erzählt Rizzi. "Die Familie muss alles aus eigener Tasche bezahlen. Von den Medikamenten bis hin zu den chirurgischen Handschuhen. Allein für den ersten Chemotherapiezyklus belaufen sich die Kosten auf 6000 bis 7000 Euro." Viele Eltern verkaufen ihr gesamtes Hab und Gut, um die Behandlung bezahlen zu können. Wenn es zu einem Rückfall kommt, haben sie nichts mehr. Das erklärt auch die vergleichsweise hohe Sterberate. Während in Italien 80 Prozent der Krebspatienten genesen, liegt die Überlebensrate in der Ukraine bei nur 50 Prozent. Dies ist nicht mangelndem Fachwissen zuzuschreiben, sondern finanzieller Not. Hier kommt Soleterre ins Spiel. Die NGO übernimmt die Kosten der Chemotherapie, manchmal auch Alltagsausgaben. Für die jetzige Notlage wurde ein Spendenkonto auf Crowdfunding-Plattform Globalgiving eingerichtet, um vor allem für nicht transportfähige Kinder die teuren Chemotherapie-Medikamente kaufen zu können.

Denn durch den Krieg ist die Situation in der Ukraine noch viel schlimmer geworden. Mindestens weitere 1000 kranke Kinder müssten unbedingt aus dem Land gebracht werden, sagt Rizzi. Da es sich bei diesen aber um Patienten handelt, die bei Ausbruch des Krieges nicht mehr im Krankenhaus waren, sondern nach der Therapie wieder nach Hause konnten, fehlt jetzt zu vielen der Kontakt. Eine Chemo darf aber nicht unterbrochen werden. Rizzi und sein Team suchen deswegen beharrlich nach ihnen. "Doch nach Mariupol, zum Beispiel, gibt es keine Verbindung mehr und hinein kommt man auch nicht."

"Es ist schlimmer als die Kinder zu schlagen"

Neben der Sorge um die Kinder treibt Rizzi die Bestürzung um, dass Kindern ein solches Leid angetan wird. "Es ist schlimmer, als würde man sie schlagen. Und das meine ich jetzt nicht als Therapeut, sondern schlicht und einfach als Mensch."

Vor zehn Jahren hat er begonnen, in der Kinderonkologie zu arbeiten. Er kennt die Ängste der kleinen Patienten und ihrer Eltern, die tägliche Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Er weiß, wie behutsam man damit umgehen muss. "Wie viele Traumata müssen sie noch erleiden?", fragt Rizzi. Er denkt dabei an einen Dreijährigen, der seit seinem ersten Lebensjahr an Leukämie erkrankt ist, er denkt an Kinder, die er und die Kollegen bei Luftalarm in die Arme genommen haben, um sie samt Infusion, wenn sie gerade am Tropf hingen, ins Untergeschoss zu bringen. Und er denkt an einen Jugendlichen, der alleine 800 Kilometer durch die Ukraine gereist ist. "Als er uns erreichte, war er so erschöpft, dass er die Augen kaum offenhalten konnte."

Rizzi erzählt auch von den zig Pässen, die ihm kurz nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine zugemailt worden waren. Verzweifelte Eltern baten ihn, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.

Die evakuierten Kinder werden solange in den italienischen Krankenhäusern bleiben wie therapeutisch nötig, auch wenn der Krieg vorher zu Ende gehen sollte. Was aber ist mit dem immensen menschlichen Leid und den Zerstörungen, die dieser verursacht hat, fragt Rizzi. Er hofft, dass die Aufmerksamkeit in Ländern, die helfen können, nicht nachlässt.

Quelle: ntv.de


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