"Russland wird Annäherung an EU nicht tatenlos zuschauen"

  10 Mai 2022    Gelesen: 696
  "Russland wird Annäherung an EU nicht tatenlos zuschauen"

Die EU-Kommission will den Beitrittsantrag der Ukraine im Juni offiziell bewerten, schreibt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf Twitter. Die Chancen für die Verleihung des Kandidatenstatus stehen gut. Doch sprechen auch Argumente gegen die Aufnahme des von Krieg zerrütteten Landes, erklärt EU-Experte Kai-Olaf Lang im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Am 28. Februar 2022 hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein offizielles EU-Beitrittsgesuch beim Europäischen Rat eingereicht. Die Ukraine möchte EU-Mitglied werden. Wie stehen momentan die Chancen dafür?

EU-Experte Lang-Kai-Olaf von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Kai-Olaf Lang: Der Weg bis zur Vollmitgliedschaft ist langwierig und mühselig. Er beinhaltet zahlreiche Zwischenschritte und grundlegende Reformen im Bewerberland. Ganz am Anfang muss ein Land aber zunächst den Kandidatenstatus erhalten - und dafür ist die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten erforderlich. Es gibt natürlich einige EU-Länder, die in Sachen Erweiterung sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen ablehnend sind.

Dazu gehört unter anderem die Niederlande.

Ja, dort fand sogar eine Volksabstimmung über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine statt. Doch auch anderswo herrscht "Erweiterungsmüdigkeit". Denken wir an Dänemark oder Frankreich. Dort gibt es sogar eine Vorschrift in der Verfassung, derzufolge ein Referendum abgehalten werden muss, wenn das Beitrittsland mehr als fünf Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmacht. Auch anderswo könnte es Volksabstimmungen geben, wenn ganz am Ende des Geschehens der Beitritt ratifiziert werden muss. Aber das ist Zukunftsmusik. Zunächst geht es um den Kandidatenstatus. Sollte die Ukraine den erhalten, was aber noch nicht klar ist, würde das zunächst noch nicht so viel bedeuten. Ein Land kann sehr lange ein Kandidatenland sein, ohne dass etwas passiert. Und auch danach gibt es sehr viele Hürden.

Was spricht gegen eine Aufnahme der Ukraine?

Es gibt letztlich drei Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen: Da wäre zunächst die Integrationsfähigkeit und Erweiterungswilligkeit der Europäischen Union selbst. Nur wenn die EU der Auffassung ist, dass sie ein Land aufnehmen kann, ohne dass dies ihr Funktionieren beeinträchtigt, wird sie sich "erweiterungsreif" fühlen. Zweitens kommt es darauf an, wie der Reformprozess in der Ukraine verläuft. Dazu zählen wirtschaftliche Anpassungen, Fragen der Regierungsführung, Abbau der Korruption, Sicherung der Rechtsstaatlichkeit und vieles mehr. Kritiker werden monieren, dass man sich ein Land in die EU holen würde, das mit zahlreichen Defiziten in die Gemeinschaft käme. Andererseits sehen wir auch, dass die Ukraine trotz aller Probleme in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte in vielen integrationsrelevanten Bereichen erzielt hat.

Und der dritte Faktor?

Ein letzter Punkt betrifft spezifisch die Ukraine in ihrer aktuellen Lage: das Verhalten Russlands. Der Kreml würde es nicht so einfach hinnehmen, wenn eine souveräne Ukraine Teil der EU würde. Zwar ist für Moskau die NATO stets ein Feindbild, aber auch die Ausweitung der EU in eine Zone, die Russland als besondere Einflusssphäre betrachtet, würde Russland auf den Plan rufen. Schon das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU wollte Russland ja nicht akzeptieren.

Wie würde es sich auf den EU-Beitritt auswirken, wenn der Osten der Ukraine von den Russen in den nächsten Monaten oder gar Jahren besetzt bleiben sollte?

Grundsätzlich hat die EU kein Interesse daran, Länder aufzunehmen, die sich in Territorialkonflikten befinden und die nicht ihr gesamtes Staatsgebiet kontrollieren. Nun gibt es aber bereits ein Land in der EU, das keine faktische Hoheit über sein gesamtes Territorium ausübt: Zypern. Dort herrscht aber Stabilität, da die beiden Teile der Insel klar voneinander getrennt sind. In der Ukraine hingegen tobt ein Krieg und es ist denkbar, dass Russland nach einer Beendigung des Kriegs in Zukunft erneut mit Kampfhandlungen beginnt. Die EU ist hierbei in einer nicht ganz einfachen Lage. Sie kann natürlich kein Land aufnehmen, in dem Krieg ist oder das sich einem offenen Dauerkonflikt um Territorium befindet. Andererseits kann sie die Ukraine ja nicht noch zusätzlich bestrafen. Außerdem wäre die Botschaft ja: Wenn Russland Krieg führt, erreicht es sein Ziel, die Westorientierung der Ukraine zu verhindern. Interessant ist, dass die Ukraine sowie Moldau und Georgien ja allesamt Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union haben. Und das, obwohl alle drei Länder Territorialkonflikten ausgesetzt sind: Transnistrien in Moldau sowie Südossetien und Abchasien in Georgien.

Sind die Assoziierungsabkommen eine Art Vorstufe zur vollen Mitgliedschaft?

Das wollte die EU eigentlich vermeiden. In der Praxis bedeutet die spezielle Form der Anbindung mit den osteuropäischen Ländern, die zum Beispiel ein besonderes Handelsabkommen beinhaltet, dass man für einen möglichen Beitritt auf etwas aufbauen kann. Bei einem EU-Beitritt geht es auch sehr stark um die Übernahme und Umsetzung von EU-Recht. Durch das Assoziierungsabkommen wird in der Ukraine davon bereits ein beachtlicher Teil umgesetzt und implementiert.

Ein EU-Betritt könne frühestens in fünf bis zehn Jahren erfolgen, sagte Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg. Und das wäre schon sehr schnell. Wird die Ukraine anders behandelt, weil sie Europa derzeit mit verteidigt oder weil sie besondere Sicherheitsgarantien braucht?

Darüber gibt es unter den EU-Mitgliedsstaaten keine Einigkeit. Vertreter vieler östlicher Länder der EU sagen sehr klar, dass die Ukraine auch die Freiheit und Sicherheit des Westens verteidigt und deswegen 'der EU-Beitrittsantrag der Ukraine mit Blut unterschrieben' sei. Ihnen zufolge hat die Ukraine sich den Kandidatenstatus nicht nur verdient, sondern liegt nach dieser Argumentation auch im Eigeninteresse der EU, die die Ukraine ja auch unterstützt, um Russland Einhalt zu gebieten. Neben wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau gehört dazu auch die Beitrittsperspektive.

Und dann gibt es viele andere Länder, etwa aus dem Westen oder dem Süden der EU, die aus verschiedenen Gründen einer Mitgliedschaft der Ukraine skeptisch gegenüber stehen: weil sie Angst haben, dass sich das Machtgefüge verschieben könnte, weil sie fürchten, dass neue Kosten auf die Gemeinschaft zukommen oder weil Entscheidungsprozesse zu umständlichen würden. Deutschland steht irgendwo dazwischen. Die Frage ist, ob es nicht eine Art Kompromiss oder Zwischenmodell geben könnte.

Wie könnte der aussehen?

Da könnte es unterschiedliche Lösungen geben. Frankreichs Staatspräsident Macron hat nun die Gründung einer "Europäischen Politischen Gemeinschaft" gefordert – eines Verbundes von Ländern, dem neben den EU-Staaten ebenso osteuropäische Beitrittsinteressenten, aber z.B. auch Großbritannien angehören könnten. Macron blieb aber eher unklar, was dies im Einzelnen hieße. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, der Ukraine - oder auch anderen Beitrittsinteressenten - den Zugang zum Binnenmarkt der EU zu ermöglichen. Der österreichische Außenminister Schallenberg hat bereits ähnliche Vorschläge gemacht. Dazu könnte es maßgeschneiderte finanzielle Hilfspakete zur Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur oder eine neue Partnerschaft für Energie- und Klimafragen geben. Auch könnte die sicherheitspolitische Zusammenarbeit vertieft werden. Das wäre so ähnlich wie der Europäische Wirtschaftsraum, in dem Länder wie Norwegen oder Liechtenstein drin sind, die aber keinen Platz am Abstimmungstisch in der EU haben. Da wäre der Widerstand vielleicht nicht so groß, denn der Partnerstaat würde nicht mit einer Stimme und eventuell mit Vetomacht in den Brüsseler Gremien sitzen. Natürlich geht das Ukraine nicht weit genug, weil sie fürchtet, dass dass ihr Mitgliedschaftswunsch damit auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben wird.

Der SPD-Politiker Michael Roth hat gefordert, dass sich die EU klar zum Ukraine-Beitritt bekennen soll. Welches Signal könnte die EU senden?

Das stärkste Signal wäre kurzfristig sicherlich die Verleihung des Kandidatenstatus. Das wäre der klassische Weg und auch das, was die Ukraine möchte. Alles andere wäre schwächer. Manche sprechen zum Beispiel auch von einem potenziellen Kandidatenstatus, was natürlich eine weitere Warteschleife allein bis zur Vergabe des effektiven Kandidatenstatus hieße.

Das könnte bei der Ukraine in ihrer derzeitigen Situation nicht gut ankommen.

Das schlechteste wäre, wenn sich die EU nicht über den Kandidatenstatus einigen könnte und dann gar nichts passiert. Oder dass sie einen Kandidatenstatus verleihen, aber nichts daraus folgt. Die EU sollte der Ukraine daher ein Angebot machen, das ehrlich und realistisch ist, aber dann auch bindend. Was danach kommt, ist offen.

Wie sieht es mit den Nachbarländern Moldau und Georgien aus, die kurz nach der Ukraine ebenfalls einen Antrag eingereicht haben? Werden sie im EU-Beitrittsverfahren gleich behandelt?

Es dreht sich wegen des Kriegs gerade vieles um die Ukraine. Moldau und Georgien segeln eher mit. Sollte die Ukraine den Kandidatenstatus verliehen bekommen, gäbe es aber kaum Argumente, warum diese den Status nicht auch bekommen sollten. Es sei denn die Europäische Kommission kommt in ihrer Stellungnahme zu einem anderen Schluss.

Wenn die EU der Ukraine den Kandidatenstatus verleihen würde, was glauben Sie, wäre Russlands Reaktion darauf?

Es würde nichts an Russlands Zielen in der Ukraine ändern, aber der Kreml würde sich in seiner Einschätzung bestätigt sehen, dass der Westen auf unterschiedlichen Wegen versucht, in ein Gebiet russischer Sonderinteressen einzudringen. Denn Russland sieht nicht nur die NATO, sondern auch die EU als Bedrohung. Bei einer Annäherung an die EU wird Russland dagegen halten und nicht tatenlos zusehen.

Was meinen Sie damit konkret?

Russland wird versuchen, der Ukraine den Weg in die EU so schwer wie möglich zu machen oder gar verhindern wollen. Für die Zukunft heißt dies auch: Sollte sich die Lage in der Ukraine irgendwann zumindest prekär stabilisieren und der Weg Richtung EU könnte angetreten wären, würde Russland vermutlich wieder ansetzen, den Nachbarn unter Druck zu setzen.

Mit Kai-Olaf Lang sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de


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