Rund vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine steht der von Bundeskanzler Olaf Scholz geprägte Begriff der "Zeitenwende" noch immer recht ungreifbar im Raum. Was folgt für Deutschland aus diesem Umbruch der internationalen Ordnung, jenseits der Ertüchtigung der Bundeswehr mithilfe des 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens? Der Co-Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, unternimmt an diesem Dienstag bei der "Tiergarten-Konferenz" der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung einen Versuch, sich vorzutasten in die kommenden Jahre und Jahrzehnte voller Ungewissheiten - und fordert sowohl von Deutschland als auch von seiner SPD einen Bruch mit manchen Gewissheiten der Vergangenheit. Das betrifft das Denken in deutschen Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik, Deutschlands Rolle in Europa und der Welt sowie das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee.
Deutschland und Europa hätten einige Jahre der Unklarheit und der Unsicherheit vor sich, was die künftige Weltordnung anbelangt, sagt Klingbeil. Darin sei der 24. Februar, der Tag des russischen Überfalls, vergleichbar mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/1990 oder dem 11. September 2001: Gewiss ist nur, dass nichts mehr werden wird, wie es vor dem größten Krieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg war. "Wir haben uns in dieser Welt bequem eingerichtet", sagt Klingbeil über den weit verbreiteten Glauben, "dass sich am Ende unser politisches Modell durchsetzen würde". Sowohl von der Annahme eines Siegeszugs des demokratischen und freien Gesellschaftsmodells als auch von der erwarteten Dauerhaftigkeit der regelbasierten Staatenordnung müsse sich Deutschland verabschieden und daraus strategische Konsequenzen ziehen.
"Nie mehr Wandel durch Handel"
In einer Welt ohne die klassischen Pole Ost und West entwickelten sich dynamisch Machtzentren, in denen es Staaten zu überzeugen und an sich zu binden gelte - so wie es Russland erfolgreich in Teilen Lateinamerikas oder Afrikas getan habe. "Wir brauchen neue strategische Allianzen auf Grundlage von wirtschaftlichen Interessen und politischer Orientierung", sagt Klingbeil.
Es ist ein Paradox: Klingbeil plädiert für mehr Orientierung an den deutschen Interessen in der Außenpolitik, fordert aber zugleich mehr Konsequenz in ethischen Fragen. "Es ist jedes Mal eine Abwägung, wie tief unsere Kooperation geht und ab wann unsere Grundsätze und Werte durch eine solche Zusammenarbeit verletzt sein könnten", sagt der SPD-Chef. Es sei klar, "dass Wandel durch Annäherung nie mehr zu Wandel durch Handel werden darf", räumt er eine der Leitlinien der vergangenen Bundesregierungen ab.
Deutschland als Führungsmacht
Auch einen anderen Satz hat man in den vergangenen Jahren aus den Reihen der SPD so nicht gehört: "Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben." Das erwarteten viele Partnerländer, werde aber der Bundesrepublik harte politische und finanzielle Entscheidungen abverlangen, sagt Klingbeil. Die SPD habe wie die meisten Akteure in Deutschland die Landes- und Bündnisverteidigung vernachlässigt. Die Führungsrolle ist aber nur zum Teil militärisch, vor allem aber politisch: "Als Führungsmacht muss Deutschland ein souveränes Europa massiv vorantreiben", sagt Klingbeil.
Deutsche Führung solle kooperativ sein, nicht breitbeinig oder rabiat. In der Praxis wird damit das Regieren in Deutschland nicht leichter: Überall mitreden, ko-finanzieren und auch militärisch schützen zu müssen, bedeutet einen Aufwand, der Wählern oft schwer zu vermitteln ist, weil Vorteile und Erfolge sich bestenfalls mittelfristig materialisieren. Dass Scholz und seine Ampelkoalition über das derart wachsende Lastenheft jubeln, kann bezweifelt werden. Doch Wegducken ist keine Option.
Neues Verhältnis zu Osteuropa und Bundeswehr
Und auch wenn Klingbeil damit nicht allein die SPD meint, gibt er seiner Partei noch eine weitere Einsicht mit: "Im Umgang mit unseren ost- und mitteleuropäischen Partnern haben wir Fehler gemacht." Der Satz ist eine Antwort auf den Vorwurf der Empathielosigkeit gegenüber Osteuropa, den mehrere Experten gerade auch gegen die SPD erhoben hatten. Klingbeil sagt, es brauche mehr Dialog sowie die Bereitschaft, Sicherheitsbedenken und Sorgen dieser Länder ernstzunehmen. Neben der SPD haben nur CDU und CSU einen vergleichbar hohen politischen Anteil daran, dass sich Deutschland derart abhängig gemacht von russischen Rohstoffen, während zahlreiche Politiker Osteuropas etwa vor der Pipeline Nord Stream 2 gewarnt hatten.
Was die SPD mehr als die Union herausfordern wird, ist Klingbeils Forderung nach einem "anderen gesellschaftlichen Umgang mit der Bundeswehr". Der im Heeresstandort Munster aufgewachsene Soldatensohn spricht sich schon länger dafür aus, beispielsweise mehr Gelöbnisse oder Abschiedsappelle vor Auslandsmissionen stärker im öffentlichen Raum abzuhalten. Auch Soldaten sollten mehr an Schulen auftreten dürfen. Es wird spannend zu sehen sein, ob sich künftig auch SPD-Bürgermeister in den eher Armee-fernen Großstädten dafür engagieren werden, dass Bundeswehrangehörige in Uniform an Schulen sprechen.
SPD steht vor großen Debatten
Auch eine Bewertung durch Friedenspolitiker wie den Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich oder den Bundestagsabgeordneten Ralf Stegner steht noch aus. Beide hatten im Frühjahr eine "Militarisierung" des öffentlichen Diskurses kritisiert. "Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen", sagt Klingbeil. Für weite Teile der SPD dürfte dieser Satz eine Zumutung sein. Schon am 27. Februar, als Scholz das 100-Milliarden-Programm ankündigte, wirkten viele sozialdemokratische Abgeordnete regelrecht verstört. Die Debatte, die Klingbeil fordert, könnte in der SPD noch länger hohe Wellen schlagen.
Dass Militärskepsis und Russlandfreundlichkeit Teil der sozialdemokratischen DNA seien, hält Klingbeil aber für falsch. "Brandt und Schmidt haben verstanden, dass man nur aus eigener Stärke heraus für Frieden und Menschenrechte eintreten kann", sagt er über die früheren SPD-Kanzler. Den bis vor Kurzem noch so oft von Sozialdemokraten gepriesenen Architekten der SPD-Ostpolitik, Egon Bahr, lässt Klingbeil unerwähnt. Zu sehr steht dieser inzwischen für ein Denken, in dem akzeptiert wurde, dass Großmächte wie Russland kleine Länder wie Polen als Verfügungsmasse handhaben können.
Die Zeitenwende markiert, was gestrig und was Zukunft ist. Die weit verbreitete Ignoranz in der deutschen Politik gegenüber Osteuropa ist mit einiger Sicherheit Geschichte. Dagegen ist die künftige Außen- und Verteidigungspolitik Deutschlands und der SPD noch nicht ausbuchstabiert. Es ließe sich auch diskutieren, ob sich die Welt wirklich am 24. Februar so schlagartig verändert hat, wie von Klingbeil beschrieben, oder ob sich manche deutsche Lebenslüge nach Putins lange vorbereitetem Einmarsch in einen souveränen Staat schlicht nicht mehr aufrechterhalten ließ.
Quelle: ntv.de
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