Was ist am Strommarkt los?
An den Börsen, an denen Strom gehandelt wird, steigen die Preise rasant in schwindelerregende Höhen. Der wichtigste Marktplatz für Deutschland ist die EEX in Leipzig. Vor einem Jahr kostete dort eine Megawattstunde für den Folgetag weniger als 50 Euro. Derzeit liegt der Preis bei 660 Euro - das sind 66 Cent pro Kilowattstunde.
Warum steigen die Preise so rasant?
Es gibt mehrere Gründe. Ungewöhnlich hohe Nachfrage kommt derzeit aus Frankreich, wo derzeit rund die Hälfte der Atomkraftwerke wegen Wartungsarbeiten oder Reparaturen nicht am Netz sind. Auch in die Schweiz wird viel Strom exportiert, weil dort wegen der Dürre nicht so viel Strom aus Wasserkraft produziert werden kann. Wegen der niedrigen Pegelstände ist es in Deutschland schwieriger geworden, Kohlekraftwerke per Schiff mit dem Brennstoff zu versorgen. Ein wesentlicher Preistreiber ist Erdgas, das durch die russischen Lieferkürzungen drastisch teurer geworden ist und auch zur Stromgewinnung verwendet wird. "Manche Versorger stehen unter extremem Druck. Den Franzosen fehlt der Strom aus ihren Kernkraftwerken. Um ihre Lieferverpflichtungen zu erfüllen, müssen sie sich eindecken - koste es, was es wolle", sagt Mirko Schlossarczyk, Partner bei der Energieberatungsfirma Enervis, im Gespräch mit ntv.de.
Wie wird der Preis an der Börse ermittelt?
Die Kunden teilen mit, wie viel Strom sie am nächsten Tag zusätzlich zu den in Langzeit-Verträgen festgelegten Mengen kaufen. Produzenten kündigen an, wieviel Strom sie am nächsten Tag zu welchem Preis herstellen können. Gekauft wird er von Kunden, die kurzfristig Strom brauchen. Entscheidend ist, dass ein Einheitspreis ermittelt wird, der für die Lieferung am nächsten Tag gilt. Dieser Einheitspreis wird durch die teuerste Art der Erzeugung bestimmt, die genutzt wird, um die Nachfrage zu befriedigen.
Was soll das?
Das Marktsystem, das dahinter steckt, nennt sich "Merit Order". Das Prinzip: Es gibt eine Einsatzreihenfolge der an der Strombörse anbietenden Produzenten. Wer den billigsten Strom herstellen kann, wird zuerst herangezogen, um die Nachfrage zu decken. Das sind in der Regel erneuerbare Energien. Reicht die angebotene Menge nicht aus, werden andere Kraftwerke hinzugenommen. Am Ende richtet sich der am Mittag ermittelte Preis nach dem zuletzt geschalteten und somit teuersten Anbieter. Das sind derzeit Kraftwerke, die mit Gas Strom erzeugen. Und da der Gaspreis so stark gestiegen ist, schlägt das auf die Großhandelspreise für Strom durch.
Worin liegt der Zweck?
Dieses System hat lange gut funktioniert. Zum einen ist es ein wichtiger Anreiz für die Branche, auf umweltfreundliche Stromerzeugung zu setzen. Zum anderen hat es für Wettbewerb und damit für günstige Strompreise gesorgt. Noch wichtiger: Beim Strom müssen Angebot und Nachfrage ständig ausgeglichen werden, um die Frequenz von 50 Hertz aufrechtzuerhalten. Die "Merit Order" ermöglicht das.
Warum ist das so wichtig?
Wird von dieser Frequenz auch nur wenig abgewichen, kann das elektronische Geräte beschädigen. Große Schwankungen können im schlimmsten Fall zu einem Blackout führen.
Was wird an der "Merit Order" kritisiert?
Dieses System trägt dazu bei, dass die Preise so stark steigen. Außerdem profitieren Betreiber von Windrädern, Solaranlagen und Kohlekraftwerken immens - ohne, dass sie Zusätzliches leisten müssen.
Kommen die hohen Preise auf dem Großhandelsmarkt bei den Verbrauchern an?
Sie schlagen nicht voll auf den Endkunden durch. Der Strompreis, den sie bezahlen, besteht zum Großteil aus Umlagen und Steuern. Außerdem ist es wahrscheinlich, dass in Frankreich bald wieder mehr Strom aus Atomenergie und im Alpenraum aus Wasserkraft gewonnen wird. Das würde den Preis senken. Doch die Auswirkungen sind auch bei Privatkunden zu spüren. Dem Vergleichsportal Verivox zufolge kostet eine Kilowattstunde Strom in einem Durchschnittshaushalt hierzulande mittlerweile 42 Cent - und damit 38 Prozent mehr als vor einem Jahr.
Wie reagiert die Bundesregierung?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will "mittelfristig durch eine grundlegende Reform des Strommarkts die Preise für Verbraucher und Industrie senken. Eine Idee ist, die Entwicklung der Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis zu entkoppeln. Kurzfristig dürfte sich die Ampel-Koalition darauf konzentrieren, Verbraucher zu entlasten. In den Reihen von SPD und Grünen wird die Forderung lauter, die "Übergewinne" der Unternehmen abzuschöpfen. Die FDP lehnt das ab.
Was sagen Ökonominnen und Ökonomen?
Die meisten argumentieren wie beim Gaspreis: Es ist in einer Marktwirtschaft normal, dass ein Gut bei sinkendem Angebot und steigender Nachfrage teurer wird. Sie warnen davor, diesen Preismechanismus auszusetzen, weil dann weniger Anreiz zum Sparen besteht. "Paradedisziplin der Politik: Marktpreise als Überbringer unliebsamer Botschaften staatlich unterdrücken", twittert Stefan Koots vom Kieler Institut für Weltwirtschaft zur Forderung, den Marktmechanismus beim Strom zumindest zeitweise auszusetzen. Die Energiekrise sei schon schlimm genug, das Aussetzen von Marktmechanismen werde sie noch sehr viel teurer machen. Das sieht Claudia Kemfert vom DIW ähnlich: "Strompreisdeckel ist keine Lösung, sondern Ursache des Problems: Beispiel Frankreich: Stromknappheit durch Atomkraft (...) trifft auf Strompreissubvention", twittert die Ökonomin. "Folge: zu wenig Sparen und hohe Dauersubvention. Statt Strompreisdeckel besser zielgerichtete Entlastungen."
Quelle: ntv.de
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