Vor nicht einmal drei Wochen zeigte sich Wirtschaftsminister Robert Habeck optimistisch: Trotz fehlenden russischen Gases habe Deutschland die Chance, gut über den Winter zu kommen - ein paar Monate vorher hätte er das so nicht gesagt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte eine Woche zuvor Entwarnung signalisiert. Gut möglich, dass beide ihre Aussagen bereits bereuen. Denn dass sich ein Gasmangel selbst bei gut gefüllten Speichern nur verhindern lässt, wenn die Verbraucher deutlich sparen, scheint bei vielen noch nicht angekommen. Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur schlägt deshalb Alarm: Der Gasverbrauch sei auch in der vergangenen Woche zu stark angestiegen. "Die Lage kann sehr ernst werden, wenn wir unseren Gasverbrauch nicht deutlich reduzieren."
Der Anstieg im Vergleich zu den vergangenen Jahren liegt zum Teil auch daran, dass es nun kälter war als damals, wie Casimir Lorenz, Leiter des Zentraleuropa-Teams der Energieberatungsfirma Aurora Energy Research, im Gespräch mit ntv.de erläutert. "Wenn man den Temperatureffekt rausrechnet, ergibt sich schon eine gewisse Ersparnis." Das Problem: "Wir müssen das Einsparziel dennoch erreichen." Trotz der hohen Speicherfüllstände und des Ausbaus von Flüssiggas-Importen sei die Situation sehr kritisch. "Wir können weiterhin in eine Mangellage rutschen", betont Lorenz.
Deutschland werde eine Gasnotlage im Winter ohne mindestens 20 Prozent Einsparungen im privaten, gewerblichen und industriellen Bereich kaum vermeiden können, bekräftigt Müller. Nach den Zahlen der Bundesnetzagentur lag der Gasverbrauch der privaten Haushalte und kleineren Gewerbekunden in der vergangenen Woche fast zehn Prozent über dem durchschnittlichen Verbrauch der vergangenen vier Jahre. Auch der Verbrauch der Industriekunden lag nur noch gut zwei Prozent unter dem Niveau der Vorjahre. Die privaten Haushalte und kleineren Gewerbekunden sind für rund 40 Prozent des Gasverbrauchs verantwortlich, auf die großen Industriekunden entfallen 60 Prozent.
Dass die Verbraucher zu wenig sparen, ist allerdings wenig überraschend - nicht nur, weil es draußen deutlich kühler wurde. Daneben ist der Preisanstieg für viele noch nicht greifbar. Zahlreiche Haushalte wissen noch gar nicht, wie viel höher ihre Gas-Rechnung tatsächlich ausfallen wird. Lorenz sieht in Bezug auf den Sparanreiz zudem den Gaspreisdeckel kritisch, den die Bundesregierung nun plant. "Ich sehe die soziale Dimension, aber wir sollten nicht signalisieren: Ihr müsst nicht alles in eurer Macht Stehende tun, um zu sparen." In Spanien, das bereits einen Preisdeckel eingeführt hat, ist der Verbrauch gestiegen.
Hohe Preise sind nicht nur ein Anreiz zum Sparen, durch sie lässt sich Lorenz zufolge auch gut erkennen, welche Industriezweige zu welchen Preisen bereit sind zu produzieren. So ließe sich seiner Ansicht nach für den Fall eines Mangels gut ableiten, wem als Erstes der Gashahn zugedreht werden könnte.
Selbst einzelne kalte Tage können zu Mangel führen
Immerhin dürfte das Wetter die Situation nicht zusätzlich verschärfen - der kommende Winter wird voraussichtlich mild. "Derzeit bewerten die experimentellen Langfristvorhersagen des Amerikanischen Wetterdienstes NOAA die kommenden sechs Monate nach wie vor durchweg zu warm bis deutlich zu warm", erklärt ntv-Meteorologe Björn Alexander. "Allerdings können auch zu warme Winter natürlich kalte bis eisige Abschnitte beinhalten - wie im Februar 2021."
Solche kalten Abschnitte können einen Mangel wiederum durchaus wahrscheinlicher machen. Denn bei niedrigen Speicherfüllständen könnten Gaskunden selbst bei nur vereinzelten kalten Tagen leer ausgehen. Das hat technische Gründe, wie Sebastian Bleschke, Geschäftsführer der Initiative Energien Speichern (INES), ein Zusammenschluss von Betreibern deutscher Gas- und Wasserstoffspeicher, ntv.de erklärt hatte: Je weniger Gas im Speicher, desto geringer der Druck und damit langsamer die Ausspeicherung. Das heißt, gerade zum Ende des Winters, wenn die Speicher bereits niedriger befüllt sind, steht den Verbrauchern womöglich nicht so viel Gas zur Verfügung, wie sie eigentlich abrufen wollen.
Kommt es tatsächlich zu einem Mangel, müssen private Verbraucher aber zunächst keine Angst haben, im Kalten zu sitzen. Denn das Heizen privater Haushalte ist rechtlich geschützt. Welchen Kunden stattdessen als Erstes der Gashahn zugedreht würde, müsste die Bundesnetzagentur entscheiden.
"Speicherziel von 95 Prozent wird knapp"
Aktuell sind die Speicher zu rund 92 Prozent gefüllt, bis 1. November sollen es 95 Prozent sein. "Pro Tag kommen ungefähr 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte hinzu, Tendenz fallend", erklärt Timm Kehler, Geschäftsführer des Verbands "Zukunft Gas", im Interview mit ntv.de. "Wenn man das hochrechnet, wird es relativ knapp, die 95 Prozent zu erreichen. Wir müssen uns bei der Gasnachfrage also zurückhalten, auch in der Industrie."
Selbst wenn die 95 Prozent erreicht werden, heißt das nicht, dass kein Mangel eintritt. Schließlich bleiben die Importmöglichkeiten ohne russisches Gas im Winter reduziert. Die reine Speichermenge genügt bei Weitem nicht für den Winter, damit ließen sich gerade einmal etwa zwei Monate bestreiten.
Kommt es trotz der Risikofaktoren am Ende nicht zu einem Gasmangel, droht dieser schon im nächsten Jahr erneut. "Selbst wenn alle geplanten LNG-Terminals fertig werden, bleibt die Frage, ob wir das Flüssiggas nach Europa bekommen", stellt Lorenz klar. Zum Beispiel könnte die Nachfrage aus China wieder wachsen. "Der Winter 2023/24 wird auf jeden Fall kritisch - und teuer."
Quelle: ntv.de, Mit dpa
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