Vorerst aber dürfen sie sich über eine Vorstellung freuen, die durchaus das Prädikat "Grandios" verdient hat. Oder wie es ein ebenso geschaffter wie fassungsloser VfL-Fan bereits in der Halbzeit auf dem Weg zum Bierstand sagte: "Wahnsinn, ich kann nicht glauben, dass das dieselben Spieler sind." Doch, das waren sie. Und sie machten vor 26.400 Zuschauern im tatsächlich ausverkauften Stadion am Mittellandkanal von Beginn an deutlich, dass sie sich der Übermacht Reals nicht kampflos ergeben wollten. Leidenschaftlich wie selten in dieser Saison traten sie keineswegs wie eine Mannschaft auf, die in der Bundesliga nur noch zum Mittelmaß gehört. Hinzu kam, dass gerade in der ersten Halbzeit so gut wie alles passte.
Gerade noch mochte der geneigte Zuschauer goutiert haben, dass die Wolfsburger immerhin die erste Viertelstunde überstanden hatten, ohne ein Tor zu kassieren, da entschied der italienische Schiedsrichter Gianluca Rocchi auf Elfmeter für den VfL, weil der Brasilianer Casemiro angeblich den deutschen Nationalspieler und Weltmeister André Schürrle gefoult hatte. Sagen wir es so: Es mag aus Sicht des Schiedsrichters so ausgesehen haben, eines Elfmeters würdig war die Aktion aber nicht. Dem Wolfsburger Ricardo Rodriguez war das herzlich egal, er verwandelte den Straflos sicher und humorlos zum 1:0 (18.).
Im Grunde steckt Wolfsburg im Dilemma
Das nahezu enthusiasmierte Publikum dankte es mit einer durchaus prächtigen Stimmung, und nur sieben Minuten später stand es plötzlich 2:0. Von der linken Angriffsseite aus hatte Bruno Henrique den Ball nach innen geflankt, dort stand Maximilian Arnold und schob den Ball aus fünf Metern am erneut machtlosen Keylor Navas vorbei ins Tor. Das Wunder nahm seinen Lauf. Und was zu diesem Zeitpunkt schon auffiel: Das Starensemble aus Madrid um Cristiano Ronaldo, Gareth Bale, Toni Kroos und Karim Benzema, der verletzt ausgewechselt werden musste, wirkte doch arg gereizt, ein Zustand, an dem sich bis zum Schlusspfiff nichts ändern sollte. Die Wolfsburger hingegen wirkten wie aufgedreht, gewannen von Minute zu Minute an Selbstbewusstsein und ließen nach der Pause nichts mehr anbrennen. Da stellte sich in der Tat die vielleicht etwas ketzerische, aber naheliegende Frage: Warum brennt das Team von Dieter Hecking nur in der europäischen Königsklasse so? Doch darauf wollte der Trainer nach der Partie nicht eingehen. Genugtuung aber verspürte er schon, hatte er doch versprochen, dass seine Mannschaft notfalls durchs Feuer gehen werde. "Ich bin von vielen belächelt worden, als ich gesagt habe, dass wir eine Chance haben. Man muss so viel Energie ins Spiel bringen, wenn man gegen so eine Top-Mannschaft gewinnen will. Wenn uns Madrid die Tür aufmacht, müssen wir durchgehen." Und nun? "Wir haben uns eine gute Ausgangsposition geschaffen. Aber wir wissen, was uns im Bernabéu erwartet, die Madrilenen werden alles reinwerfen. Aber wir haben heute gesehen: Da sind Lücken in der Defensive. Wenn wir ein Tor machen, müssen sie schon vier machen."
Im Grunde hatte dieses Viertelfinale die Fußballer des VfL Wolfsburg von vorneherein vor ein Dilemma gestellt, aus dem sie sich per definitionem nicht elegant befreien können: Wären sie gegen Real untergegangen, hätte es geheißen: War klar, sie können es einfach nicht, Madrid ist mindestens zwei Nummern zu groß. Nun aber müssen sie sich die Frage gefallen lassen, woher diese rätselhafte Leistungssteigerung rührt. Frei nach dem Motto: Sieh‘ an, in der Bundesliga lassen sich die Herren hängen und hecheln auf Platz acht der Tabelle den Spitzenteams und den Ansprüchen ihres Klubs hinterher. Aber in der Königsklasse, auf der großen Bühne, wollen sie sich dann doch zeigen - was für eine charakterlose Bande, die nur an Feiertagen zeigt, was sie kann. Nun, die Wolfsburger haben sich für die zweite und damit nicht für die schlechteste Variante entschieden. So konnte sich der überragende Abwehrchef Naldo, der nach seiner Verletzung sofort wieder in die Startelf gerückt war, sich hinstellen und sagen: "Wir haben gezeigt, dass wir eine Mannschaft sind. Wenn wir uns auf uns konzentrieren, können wir jeden Gegner schlagen."
"Haben erst 55 Prozent geschafft"
Sein Kollege Maximilian Arnold gab zu Protokoll: "Es ist schon was Geiles. Ich würde lügen, wenn es mich nicht jucken würde oder es mir nicht kalt den Rücken runter laufen würde." Und auch er übertrug das auf dem Platz erspielte Selbstbewusstsein in seine Prognose fürs Rückspiel: "Wir fahren dahin, um das Bernabéu zu genießen." Allerdings: "Wir müssen die Kirche im Dorf lassen, haben erst 55 Prozent geschafft. Wir müssen in Madrid noch einmal so eine Leistung bringen, wenn nicht sogar noch besser spielen." Schließlich habe Real in jeder Phase des Spiels Druck gemacht. "Aber wir haben dagegen gehalten und als Mannschaft verteidigt. Dann haben wir als Mannschaft auch die Tore geschossen."
Zinedine Zidane hingegen, der Trainer der Madrilenen, war einigermaßen bedient. "Ich bin komplett für dieses Ergebnis verantwortlich. Ich bin stolz auf meine Spieler, aber im Grunde genommen bin ich der Verantwortliche und muss nach Gründen dafür sowie nach Lösungen suchen." Für den kommenden Dienstag hat er nur einen Wunsch: "Ich hoffe, für Wolfsburg wird das Rückspiel zur Hölle." Aber irgendwie muss er geahnt haben, was da auf ihn und seine Mannschaft zukommen würde. Vor der Partie hatte Zidane prophezeit: "Die Wolfsburger sind aus gutem Grund im Viertelfinale, auch wenn sie Schwierigkeiten in der Liga haben. Aber in der Champions League ist die Motivation immer eine andere."
Gute Fußballer haben die Wolfsburger ja durchaus. Und wenn sie wollen, zeigen sie es auch. Nationalspieler Julian Draxler brachte die Sache hinterher unfreiwillig auf den Punkt: "Wir mussten 100, 110 Prozent geben." Real Madrid sei schließlich ein Topteam mit großem Namen. Genau das ist offenbar das Wolfsburger Problem. Nun aber haben sie sich als Mannschaft neu entdeckt. Und greifen nach der Sensation.
Tags: