Es ist noch keine zwei Monate her, da schickte ein Preissignal Schockwellen durch Europa. Ende August erreichte der Preis für Erdgas auf dem Markt einen neuen Rekordstand: 346 Euro kostete im Terminkontrakt eine Megawattstunde (MWh) am niederländischen Referenzpunkt TTF. Das Allzeithoch bedeutete den zehnfachen Preis des Vorjahres. Seither bewegten sich die Preise nach unten.
Mitte September fiel der TTF-Referenzwert unter die Marke von 181 Euro – und lag damit nur noch knapp halb so hoch wie Ende August. Analysten sagten voraus, der Trend werde sich fortsetzen, die Preise "über den Winter weiter fallen". Die Prognose bewahrheitet sich nun schneller als erwartet: Zu Wochenbeginn notierte Europas Großhandelspreis für Gas nur noch bei 95 Euro pro Megawattstunde – also 9,5 Cent je KWh. Das ist der tiefste Stand seit Anfang Juni und satte 70 Prozent weniger als zum Höchststand im August.
Ist die Krise damit vorbei – das Horrorszenario für Verbraucher und Industrie nun abgewehrt? Oder hat es doch nur den Anschein? Zwar ließ der kräftig gefallene Gaspreis Versorger in ganz Europa aufatmen. Doch auf den Gasrechnungen der Verbraucher sieht die Sache gegenwärtig noch anders aus, da steigen die Abschläge derzeit, was sich auch so schnell nicht ändern wird. Wegen stark schwankender Großhandelspreise, so die Bundesnetzagentur, "müssen sich Unternehmen und private Verbraucher auf deutlich gestiegene Gaspreise einstellen". Auch das Sparziel von mindestens 20 Prozent müsse weiterhin erreicht werden.
Für Neukunden sinken die Gaspreise der Versorger zwar seit kurzem. Der Peak scheint überschritten, aber Entwarnung kann es deswegen nicht geben, sagen Analysten. Auch ein von Goldman Sachs erwarteter Termin-Gaspreis von 100 Euro im Frühjahr – also knapp über dem derzeitigen Stand – ist immer noch etwa fünfmal so hoch wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Was geschieht auf den krisengeschüttelten Energiemärkten?
Für den Rückgang der Gaspreise gibt es aus Sicht von Experten mehrere Gründe. Übergreifend hat die Furcht abgenommen, dass es im Winter zu Engpässen bei der Versorgung kommen könnte. Denn es hat sich in den vergangenen Wochen ein Überangebot aufgebaut: Die Witterung ist deutlich milder als für diese Jahreszeit üblich. Es wird also weniger geheizt als üblich. Die Wettervorhersagen in Europa gehen bis Anfang November weiter von überdurchschnittlichen Tagestemperaturen von 15 Grad Celsius aus. So lange dürfte das Überangebot bestehen bleiben.
Zugleich ist es Deutschland, dem größten Erdgaskunden der EU, gelungen, seine Gasspeicher zügig zu füllen. Der Füllstand liegt derzeit bei bis zu 97 Prozent, etwa zehn Prozentpunkte höher als noch Mitte September. Das Ziel der Bundesregierung, Anfang November einen Füllstand von 95 Prozent zu erreichen, ist damit erreicht. Seit dem Lieferstopp des russischen Energiekonzerns Gazprom durch die Gaspipeline Nord Stream 1 erreichten umfangreiche Flüssiggaslieferungen die europäischen Häfen (LNG). Die hohen Preise der vergangenen Monate haben neue Anbieter angelockt. Auch ein Grund, warum Deutschland mit einem europäischen Gaspreisdeckel hadert.
Wer auf der Website der Beraterfirma MarineTraffic die Landkarte der Küstengewässer um Nordwesteuropa, die iberische Halbinsel und das nördliche Mittelmeer studiert, erkennt unzählige blaue Punkte: Dutzende Flüssiggastanker warten darauf, ihre Ladung löschen zu können. Doch die Speicherkapazitäten der europäischen LNG-Terminals reichen offenbar nicht aus. Allein vor Spanien – dem Land Europas mit den meisten Flüssiggasterminals – warten nach Branchenmeldungen 35 Tanker auf grünes Licht.
Laut Spaniens Netzbetreiber Enagas könne es wegen des Staus durchaus sein, dass geplante Anlandungen abgesagt werden müssten. Die Lage bleibe bis in die erste November-Woche hinein unübersichtlich. So werden die Transporter zu schwimmenden Lagern – auch dies drückt die Großhandelspreise.
Politische Botschaften senden aktuell auch die Energieminister der EU von ihrem Treffen nach dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Zwar sind intensive Diskussionen über einen wie auch immer gearteten Preisdeckel noch nicht ausgestanden. Aber den Märkten wird signalisiert, dass es entschiedene staatliche Eingriffe geben wird – was sich ebenfalls dämpfend auf die Preise auswirken dürfte. Außerdem wollen die EU-Länder über gemeinsame Einkäufe ihre Marktmacht ausbauen.
Strompreis ebenfalls im Sinken
Auch der Börsenstrompreis ist seit Ende August um zwei Drittel gesunken. Das wirkt sich mittlerweile sogar bei den Strom-Neuverträgen für Verbraucher aus. Die Preise sinken, der Höhepunkt scheint überschritten. Doch wenn der Börsenpreis – für Strom oder für Gas – steigt oder sinkt, kommt das erst zeitverzögert bei den Endverbrauchern an. Die Energieversorger hinken der Entwicklung so weit hinterher, dass bei vielen Haushalten die Preiserhöhungen der Vergangenheit noch gar nicht angekommen sind. Sie müssen stattdessen höhere Abschläge bezahlen.
Wenn die Börsenpreise für Erdgas sinken, dürfte das jedoch auch die Debatte rund um Übergewinnsteuern für Profiteure aus der Energiepreise wieder befeuern. Immerhin können Energiekonzerne zu niedrigeren Preisen einkaufen. So hatte zuletzt im dritten Quartal der Öl- und Gaskonzern Wintershall Dea prächtig dazuverdient: Vor allem dank der hohen Energiepreise legte der Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen und Explorationskosten auf knapp 2,6 Milliarden Euro zu, nach knapp 1 Milliarde Euro ein Jahr davor.
Rezession fällt weniger scharf aus
Erfreuliche Nachrichten können dem Gaspreistrend nach unten auch Volkswirte abgewinnen. So erwartet die Privatbank Berenberg weiterhin, dass das Risiko einer Gasmangellage Deutschland und Europa eine Rezession bescheren werde. Aber der Trend gehe in die richtige Richtung, sagte Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding in einem Podcast. "Die Rezession wird nicht ganz so scharf ausfallen müssen, wie vor Wochen noch befürchtet", so Schmieding, als die Prognosen von schwankenden Preisen um die 200 Euro ausgegangen waren. Nun dürften sie sich im kommenden Winter bei 150 Euro einspielen. Daher erwarte sein Haus nun in der Eurozone einen Rückgang der Wirtschaftsleistung in der Eurozone um 0,9 Prozentpunkte (verglichen mit 1,2).
Wenn der Gaspreis nicht mehr so dramatisch hoch bleibe, sei das zudem eine gute Nachricht für Staaten und ihre Haushaltsdefizite. Wer bemüht sei, die Preisexplosionen durch Subventionen aufzufangen, um das teuer gehandelte Gas dem Verbraucher zu einem zumutbaren niedrigeren Preis verfügbar zu machen, für den verringere sich der Kostendruck. "Wir erwarten für europäische Haushalte 4,8 Prozent Fehlbetrag statt bislang 5,4 Prozent", so Schmieding.
Der Artikel erschien zuerst bei Capital.de.
Quelle: ntv.de
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