Papst Franziskus` rhetorischer Kniff für das Ehe-Dilemma
Es ist eine populäre Geschichte. Vor allem liberale Katholiken erwähnen sie gerne, weil sie Nachsicht predigt statt Prinzipienreiterei. Doch die Erzählung hat einen Haken: Dass Jesus damals im Jerusalemer Tempel, wo die Geschichte spielt, auf ein Urteil verzichtet hat, mag für die Ehebrecherin eine gute Lösung gewesen sein. Aber wenn sich heute ein Papst über die Stelle beugt und daraus klare Verhaltensregeln ableiten will, hat er es ziemlich schwer.
Ist es egal, dass die Frau die Ehe gebrochen hat? Oder befürwortet Jesus zwar keine Steinigung, aber zum Beispiel den zeitweisen Ausstoß der Ehebrecherin aus der Gottesdienstgemeinschaft? Was würde er sagen, wenn die Frau erneut die Ehe bricht? Jesus hat leider davon abgesehen, seine Vorstellung von Ehe, Familie und Sexualität näher zu erläutern. Und so spätere Theologen ziemlich im Stich gelassen. Allen voran Papst Franziskus.
Der größte Willensbildungsprozess
Vielleicht ist so die seltsame Unentschiedenheit zu erklären, die das neue Papstschreiben "Amoris Laetitia" ("Die Freude der Liebe") auszeichnet. Das Dokument ist am Freitagmittag in Rom vorgestellt worden und schließt einen jahrelangen Beratungsprozess der katholischen Kirche ab: Laien und Priester, Bischöfe und Kardinäle haben seit 2013 um eine Reform der katholischen Sexualmoral gerungen.
Es war der größte Willensbildungsprozess, den die Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erlebt hat, beginnend mit einem globalen Fragebogen zur familiären und sexuellen Lebenswirklichkeit der Laien, endend mit einer mehrwöchigen Synode in Rom im Oktober 2015.
Die große Frage lautete: Soll die Kirche ihre Sexuallehre an die sich ändernden Realitäten in der Gesellschaft anpassen, und wenn ja, wie? Die wichtigsten Streitpunkte dabei waren der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, mit Paaren ohne Trauschein sowie mit Homosexuellen – mit Menschen also, die nach katholischer Auffassung in Sünde leben.
In "Amoris Leatitia", einem für alle Katholiken verbindlichen Lehrschreiben, fasst der Papst nun das zusammen, was aus dieser ganzen Megadebatte der vergangenen Jahre, die die gesamte Kirche in Atem gehalten hat, denn nun folgen soll. Obwohl er dafür rund 300 Seiten ausgibt, ist nüchtern festzustellen: offenbar nicht viel.
Wie der passt sein Dilemma lösen will
Der Papst steckt in einem Dilemma. Er will das katholische Ideal der unauflöslichen Ehe zwischen Mann und Frau bewahren und sogar noch einmal besonders betonen. Gleichzeitig aber will er der Kirche abgewöhnen, alle Menschen zu diskriminieren, die diesem Ideal nicht entsprechen. Es ist die Quadratur des Eherings.
Franziskus versucht, sie in derselben Weise hinzubekommen, wie Jesus die Sache mit der Ehebrecherin gelöst hat: mit dem Verzicht sowohl auf Verurteilung als auch auf eine ausdrückliche Reform der bisherigen Regeln. "Wenn man die zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen berücksichtigt, kann man verstehen, dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende generelle gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte", schreibt Franziskus.
Stattdessen fordert er seine Priester auf, Geschiedene, Wiederverheiratete oder Homosexuelle als Einzelfälle zu behandeln, also jeweils individuell zu beurteilen und ihnen, je nach den persönlichen Umständen, eher ins Gewissen reden oder aber eher mit Nachsicht zu begegnen.
"Die Kirche gleicht einem Lazarett"
"Niemand darf auf ewig verurteilt werden, denn das ist nicht die Logik des Evangeliums! Ich beziehe mich nicht nur auf die Geschiedenen in einer neuen Verbindung, sondern auf alle, in welcher Situation auch immer sie sich befinden", so Franziskus. Er habe Verständnis für alle, die sich einen "unerbittlicheren" Umgang wünschten. "Doch ich glaube ehrlich, dass Jesus Christus eine Kirche möchte, die achtsam ist gegenüber dem Guten, das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet."
In diesem Zusammenhang wiederholt der Papst auch eine neue Metapher, die er bereits Anfang des Jahres in einer Predigt gebraucht hatte: "Vergessen wir nicht, dass die Aufgabe der Kirche oftmals der eines Feldlazaretts gleicht."
Die Priester, die Wiederverheiratete an der Kommunion teilnehmen lassen, können sich nun also ebenso auf den Papst berufen wie die, die das nicht tun. Eine der entsprechend vieldeutigen und sperrigen Formulierungen lautet zum Beispiel: "Einer pastoralen Zugehensweise entsprechend ist es Aufgabe der Kirche, jenen, die nur zivil verheiratet oder geschieden und wieder verheiratet sind oder einfach so zusammenleben, die göttliche Pädagogik der Gnade in ihrem Leben offen zu legen und ihnen zu helfen, für sich die Fülle des göttlichen Planes zu erreichen, was mit der Kraft des Heiligen Geistes immer möglich ist."
Nicht so viel fernsehen!
Was der Papst zu den umstrittenen Reformthemen zu sagen hat, steht fast ausschließlich im achten von neun Kapiteln. Der Rest ist letztlich eine auf Buchlänge angeschwollene Riesenpredigt, und wie es lange Predigten so an sich haben, findet sich darin neben inspirierenden und sehr persönlichen Passagen auch reichlich Füllmaterial.
Nach einem knappen und stimmungsvollen Überblick über zentrale Aussagen der Bibel zu Ehe und Familie berichtet das Schreiben länglich über denkbare Familienprobleme, von denen der eine oder andere Gläubige vielleicht auch schon ohne apostolische Dokumente gehört hat (Sie müssen wissen: manchmal reden Paare zu wenig miteinander; und es ist nicht so gut, den ganzen Tag fernzusehen).
In späteren Kapiteln gibt Franziskus mit heiligem Ernst Tipps für ein gelingendes Eheleben und eine erfolgreiche Kindeserziehung. Eine Empfehlung lautet zum Beispiel: mehr lesen, um spannend zu bleiben für den Ehepartner. "Damit der Dialog der Mühe wert ist, muss man etwas zu sagen haben, und das erfordert einen inneren Reichtum, der seine Nahrung bezieht aus der Lektüre, der persönlichen Reflexion, dem Gebet und der Offenheit gegenüber der Gesellschaft. Andernfalls werden die Gespräche langweilig und substanzlos."
Einmal ermahnt der Papst junge Eltern: "Die Kinder sich selbst zu überlassen, ist niemals gesund." Ganz schlecht sei es, "wenn zur Essenszeit jeder mit seinem Mobiltelefon herumspielt oder wenn einer der Ehegatten einschläft, während er auf den anderen wartet, der sich stundenlang mit irgendeinem elektronischen Gerät die Zeit vertreibt." Dass solchen Erkenntnissen ein mehrjähriger synodaler Prozess voranging, ist eine hinreichende Zustandsbeschreibung katholischer Reformfähigkeit.
"Der Tanz in der Liebe"
Bemerkenswert ist immerhin, dass der Papst der Kirche ausdrücklich eine Mitschuld an gescheiterten Familienbeziehungen gibt. Das Pochen auf der reinen Lehre wirke auf manche Menschen offenbar nicht motivierend, sondern eher frustrierend. Die Kirche müsse "demütig und realistisch anerkennen, dass unsere Weise, die christlichen Überzeugungen zu vermitteln, und die Art, die Menschen zu behandeln, manchmal dazu beigetragen haben, das zu provozieren, was wir heute beklagen. Daher sollte unsere Reaktion eine heilsame Selbstkritik sein." Statt den Katholiken Vorschriften zu machen, soll die Kirche laut Franziskus offenbar eher für ihre Überzeugungen werben.
Und ein Ziel, das der Papst sich bei der ganzen Mühe um Ehe und Familie gesetzt hatte, wird mit "Amoris laetitia" in der Tat erreicht: Die Kirche sollte fröhlicher, positiver, selbstbewusster über die Liebe und ihre Familienlehre sprechen, nicht mehr nur verdruckst und verschämt.
Franziskus schwärmt zum Beispiel von der "Ruhelosigkeit" einer jungen, keimenden Liebe, die es immer weiter zu stimulieren gelte. "Der Tanz in dieser jungen Liebe, Schritt für Schritt voran, der Tanz auf die Hoffnung zu, die Augen voller Staunen – er darf nicht zum Stillstand kommen."
Ob dieses Schreiben nun zu Erleichterungen führt für Katholiken, die ein anderes Familienmodell leben als das traditionelle, hängt davon ab, wie die Bischöfe und Priester in aller Welt es auslegen. Das wird von Land zu Land und zumal von Kontinent zu Kontinent sehr unterschiedlich sein. Franziskus verändert nicht die Gesetze, er erweitert lieber den Spielraum. Das kann man salomonisch finden. Aber eines war König Salomo, wenn man dem Alten Testament glauben darf, sicher nicht: ein Revolutionär.
Quelle : welt.de