Mittendrin ausgeschlossen

  12 April 2016    Gelesen: 725
Mittendrin ausgeschlossen
Vor 500 Jahren wurde in Venedig das Judenviertel "Ghetto" eingerichtet. Der Begriff machte eine unrühmliche Karriere. Doch die Lagunenstadt diente damals Juden aus ganz Europa als Zufluchtsort.
Ein sonniger Wintermorgen in Venedig, der Campo del Ghetto Nuovo wirkt friedlich und aufgeräumt. Sorgfältig renovierte Wohnhäuser mit pastellgelben und kirschroten Fassaden umrahmen den Platz, nur das sechseckige Wachhäuschen der Carabinieri weist darauf hin, dass sich hier ein besonderer Ort befindet: Die Militärpolizei steht vor der Casa Israelitica di Riposo, dem jüdischen Altenheim, einem lang gestreckten Ziegelbau.

Hier wohnen nur noch drei sehr betagte Frauen, die fast das gesamte vergangene Jahrhundert erlebt haben – und damit auch die schlimmste Zeit für die Jüdische Gemeinde von Venedig. Bronzereliefs des litauischen Bildhauers Arbit Blatas erinnern daran, wie die deutschen Besatzer mithilfe italienischer Faschisten zwischen Ende 1943 und Anfang 1945 die Jüdische Gemeinde zerschlugen und 246 Mitglieder in die Vernichtungslager deportierten. Heute leben wieder rund 400 Juden in Venedig, aber die wenigsten von ihnen auf dieser Insel im Stadtteil Cannaregio, die über drei Brücken mit dem Rest der Stadt verbunden ist, im Bewusstsein der Venezianer aber über Jahrhunderte eine eigene Welt bildete: die Welt der Fremden, Ausgegrenzten und Eingeschlossenen, in der Shakespeare seinen jüdischen Kaufmann Shylock agieren ließ. Bis heute ist diese literarische Figur die größte Berühmtheit des Ghettos von Venedig.

Vor 500 Jahren, am 29. März 1516, wies der Senat der Republik Venedig den Juden diese damals abgelegene und unwirtliche Gegend zu. "Die Juden müssen alle gemeinsam in den Häusern [...] bei San Girolamo wohnen", hieß es in dem Beschluss, "und damit sie nicht die ganze Nacht umherstreunen, sollen zwei Tore errichtet werden. Diese müssen morgens beim Klang der Marangona-Glocke von San Marco geöffnet und um Mitternacht durch vier christliche Wächter zugesperrt werden, die dafür von den Juden bezahlt werden zu dem Preis, der Unserem Kollegium angemessen erscheint."

Der Senat nahm diese Regelung mit 130 Jastimmen an, bei acht Enthaltungen und 44 Gegenstimmen. Das erste Judenghetto der Welt schufen die Venezianer damit zwar nicht. Zwangsumsiedlungen in abgeschlossene Stadtbezirke hatte es auch schon zuvor gegeben, namentlich in der bereits 1462 eingerichteten "Judengasse" in Frankfurt am Main. Das venezianische Ghetto aber war das erste, das so hieß. So begann vor 500 Jahren die unrühmliche Weltkarriere eines Begriffs, der spätestens seit dem 20. Jahrhundert für die Ausgrenzung, Verfolgung, ja Vernichtung von Minderheiten steht.

Im Dialekt der Venezianer bedeutete geto zunächst nichts anderes als "Gießerei", denn das Gelände des Judenviertels hatte zuvor der Kupfer- und Eisenherstellung gedient. Gleich nebenan befand sich das Massengrab für die Hingerichteten – die Gegend war also für die ehrbaren Venezianer so etwas wie das Tor zur Unterwelt. Mehr als 700 Familien wurden 1516 in das Ghetto Nuovo umgesiedelt, benannt nach der "neuen Gießerei", die indes schon lange geschlossen war. Weitere folgten 1541 im angrenzenden Ghetto Vecchio und 1633 im Ghetto Nuovissimo.

In den 500 Jahren seiner Geschichte ist das Viertel weitgehend architektonisch intakt geblieben – auch den Einfall von Napoleons Truppen im Jahr 1797 überstand es im Wesentlichen unbeschadet. Bis heute ist das Ensemble aus auffallend hoch gebauten, bis zu siebenstöckigen Häusern und fünf Synagogen zu besichtigen, durchmischt mit koscheren Geschäften und Restaurants, verbunden durch "gedrängte Gassen und schwarze, verqualmte Torgänge", wie es der Dichter Rainer Maria Rilke um 1900 beschrieb.

Das Leben hier war hart. Die Ghetto-Bewohner mussten sich einen gelben "Judenkreis" an die Kleidung heften oder einen spitzen "Judenhut" tragen. In der Nacht und an hohen kirchlichen Feiertagen herrschte Ausgangssperre; nur für Ärzte galten Ausnahmen, damit diese jederzeit ihre – christlichen – Patienten versorgen konnten.

Auch ließ man keine Gelegenheit aus, die jüdische Bevölkerung zur Kasse zu bitten. Eine Bootswache, die auf den Kanälen um das Ghetto patrouillierte, mussten die Juden selbst bezahlen. Die Mieten waren dreimal so hoch wie auf dem übrigen Stadtgebiet; Immobilien zu erwerben war Juden verboten. Die Folge waren Wohnungsnot und drangvolle Enge. Um 1600 lebten auf dem drei Hektar großen Gebiet fast 6.000 Menschen, dreimal mehr pro Quadratmeter als im Rest der Stadt.

Dennoch war das Ghetto von Venedig nicht nur ein Ort der Diskriminierung: Europas Juden zogen hierher, weil sie im Ghetto mehr Rechte und besseren Schutz genossen als anderswo. Es klingt paradox, aber der Ort, den die christliche Seerepublik den Verdammten und Ausgegrenzten zugewiesen hatte, avancierte zum Anziehungspunkt für viele jüdische Flüchtlinge. Venedig war im 16. Jahrhundert die reichste und mächtigste Seemacht des Mittelmeeres, das Ziel für Tausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben.

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