Mit welchen Autos kann man als Importeur in Europa und insbesondere Deutschland punkten, wenn es mal kein SUV sein soll? Klar, mit dem guten Kombi, der hier auf eine jahrzehntealte Tradition blickt. Er ist effizienter als SUV und besticht dennoch durch attraktiven Nutzwert - in der Regel jedenfalls. Und da Nio offenbar alles gibt, um hierzulande Autos an den Mann und die Frau zu bekommen, wagt sich der chinesische Konzern an eben dieses für ostasiatische Hersteller wahrlich exotische Segment.
Allein: Sonderlich viel Nutzwert bietet die Mittelklasse nicht. Nio preist die 1247 Liter Kofferraumvolumen bei umgeklappten Sitzen auf seiner Website als "enorm" an - meinen die das ernst? Aber egal, dafür schaut der Touring adrett aus und mit der Bezeichnung "Touring" schwingt ja auch irgendwie ein Hauch von BMW mit. Ob das so gewollt ist? Außerdem bleibt der Nio dank einfahrenden Türgriffen plus rahmenlosen Scheiben zusätzlich im Kopf. Seine optisch etwas gewöhnungsbedürftige LiDAR-Sensorik (der adaptive Tempomat arbeitet unauffällig) setzt Akzente.
Mit 490 PS ist der ET5 nicht mehr bodenständig
Einen Akzent setzt er allerdings auch mit der eingeschränkten Antriebsauswahl. Klar ist das toll, mit 490 PS unter dem Hintern unterwegs zu sein. Aber ginge es nicht auch eine oder zwei Nummern kleiner? Demnach startet der 4,79 Meter lange Tourer laut Hersteller bei 47.500 Euro. Aber das ist ja nur die halbe Wahrheit - denn die Batterie kommt noch obendrauf. Anderenfalls fallen Leihgebühren für die Batterie an von mindestens 169 Euro monatlich (75 kWh). Der große Akku (100 kWh) schlägt sogar mit monatlich 289 zu Buche. Wer Fahrzeug und Stromspeicher kauft, muss einen Grundpreis von 59.500 Euro akzeptieren. Das mag für das Gebotene zwar immer noch wohlfeil klingen (ein BMW 330d Touring mit vergleichsweise moderaten 286 PS kostet bereits 61.400 Euro). Aber wie wäre es, den Kostenvorteil so einzusetzen, dass der Nio für eine breitere Käuferschicht zugänglich wäre? Immerhin - Leistungsfetischisten dürfen sich freuen.
Vorteilhaft beim Batterie-Mietmodell soll sein, Gebrauch von den Akkuwechselstationen machen zu können (der Akku ist dann Eigentum von Nio). In diesem Fall lässt sich die leere Batterie an einer entsprechenden Station binnen fünf Minuten einfach gegen eine volle tauschen. Ob man von diesem System überzeugt ist oder nicht - Nio hat vorgesorgt und die Ladeperformance des Allradlers inzwischen massiv verbessert. Im Praxistest hat der Kombi binnen 20 Minuten 300 Kilometer Reichweite draufgesattelt mit über 180 Kilowatt Ladeleistung. Damit konterkariert der Konzern sein Akku-Wechselkonzept allerdings ein bisschen. Denn so dicht kann das Netz der Swapstationen gar nicht sein, als dass es sich lohnen würde, den Powercharger liegenzulassen, der sowieso auf direktem Weg zum Ziel liegt. Und ob Nio deutlich mehr als zehn Stück davon in Deutschland installieren wird, ist mehr als fraglich angesichts des finanziellen Aufwands.
Die Lenkung könnte etwas Feinschliff vertragen
Doch genug der Vorrede - wie fährt der ET5 Touring eigentlich? Entsprechend der Leistung verdammt druckvoll. Aber um den vollen Punch abrufen zu können, muss vorher der Modus "Sport+" gewählt werden (oder individuelle Einstellungen). In diesem Fall geht es binnen vier Sekunden auf 100 km/h. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt immerhin 200 km/h. Gewöhnungsbedürftig ist, dass der ET5 nach jedem Neustart zunächst mit reduzierter Power unterwegs ist - die für den Alltag jedoch allemal ausreicht. Wenn die Ingenieure aber schon solch ein performantes Auto auf die Räder stellen, sollten sie Fahrwerk und Lenkung noch einen Zacken Feinschliff verpassen. Letztere arbeitet einen Tick zu synthetisch für ein Auto dieser Fahrzeugklasse.
Am Ende ist der ET5 Touring - es steckt ja schon im Namen - ein Tourer mit recht schluckfreudiger Federung und durchaus gemütlichen sowie auf Wunsch massierenden Recycling-Sesseln. Und auch wenn das Platzangebot für die Passagiere (vor allem im Fond) vielleicht nicht über Gebühr verschwenderisch ausfällt, ist der Nio ein patenter Langstrecken-Partner. Einer, der spannende Features (ausladend großes Glasdach) bietet, aber in manchen Disziplinen noch verbesserungswürdig ist. Aus innenarchitektonisch-ästhetischer Sicht mag ja verständlich sein, physische Tasten verbannen zu wollen, der praktisch-pragmatische Ansatz ist das nicht, obschon das scharfe Display reaktionsschnell ausfällt. Aber warum versteckt man die für Waschanlagen notwendige Stellung "N" so aufwendig im Menü, dass man sie nur umständlich ansteuern kann? Und explizit vor allem für die Spiegelverstellung wünsche ich mir eine konventionelle Lösung und kein Menü-Gefummle.
Licht und Schatten bei der Bedienung
Dafür macht der Nio wiederum Punkte mit einer ziemlich effektiv arbeitenden induktiven Ladeschale für Mobiltelefone, die die Bezeichnung "Ladeschale" auch verdient. Die Geräte werden nicht warm und laden auch tatsächlich zügig voll - sogar bei modernen Autos keine Selbstverständlichkeit. Dafür fragt man sich hingegen, wie die Fondpassagiere bloß ihre wohlverdiente Sitzheizung aktivieren sollen. Hinten finden sich weder Schalter noch Touchscreen. Also muss man die vorderen Mitfahrer bitten. Das ist nicht zu Ende gedacht.
Man könnte jetzt aus dem Fond heraus natürlich Nomi (den lustigen, mittlerweile ganz gut funktionierenden Assistenten) anschreien, aber das ist ja auch nicht immer passend, wenn vorn Konversation herrscht. Nomi (optional) erinnert übrigens an eine süße Katze, die einem sogar lieb hinterherschaut nach dem Aussteigen. Ja, richtig verstanden. Denn Nomi sitzt als kleine drehbare Kugel mit Displayfläche (für die Mimik) auf der Armaturentafel und ist sich nicht zu schade, ständig mit Kopfgesten auf sich aufmerksam zu machen.
Zum Schluss noch der Hinweis, dass der 2,2 Tonnen schwere ET5 auf Wunsch ziemlich viel Batterie bunkert (100 kWh). Bei bei moderater Fahrt (gemittelt 19,3 kWh je 100 Kilometer) sind daher bis zu 560 Kilometer nach WLTP-Disziplin drin. Wobei das schon optimistisch ist, denn dann muss der Verbrauch unter 18 kWh liegen, was sehr viel Disziplin erfordert. Ob man der Verlockung widerstehen kann, den ET5 nicht doch viel zu häufig sportlich zu fahren (und dann verbraucht er deutlich mehr und fährt nicht so weit), steht auf einem ganz anderen Blatt.
Fazit: Von den Chinesen hätte man wohl alles erwartet, bloß keinen Kombi. Tatsächlich ist es so, dass sich der Nio nur wenige Schwächen leistet. Er macht eine ordentliche Figur vom Antrieb über das Infotainment bis hin zur Verarbeitungsqualität. Und die Ladeperformance ist sogar richtig gut. Zum Massenphänomen dürften die Nio-Modelle jedoch kaum werden, aber das ist vielleicht auch gar nicht ihre Strategie. So blauäugig können die Marketingleute gar nicht sein, als dass sie nicht wüssten, dass man mit Antrieben um 500 PS herum und gepfefferten Preisen eher eine Klientel anspricht, die dann doch lieber den Stern, das weißblaue Logo oder eben die Ringe auf ihrem Auto sähen.
Quelle: ntv.de
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