Kiew: Russland greift mithilfe westlicher Technik an

  19 Januar 2024    Gelesen: 748
  Kiew: Russland greift mithilfe westlicher Technik an

In Detektivarbeit spüren ukrainische Ingenieure westliche Technik in russischen Raketen, Granaten und Drohnen auf. Sie zerlegen die Wrackteile bis ins kleinste Detail. Laut Außenminister Kuleba verbaut Russland trotz der Sanktionen weiter importierte Komponenten in seinen Waffen und greift damit an.

Die Ukraine hat den Westen aufgefordert, mehr zur Eindämmung der russischen Waffenproduktion zu tun und Schlupflöcher bei der Lieferung einzelner Komponenten zu schließen. Nach Angaben des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba stammen 95 Prozent der "kritischen ausländischen Komponenten" in russischen Angriffswaffen aus dem Westen. Im Onlinedienst X zitierte der Chefdiplomat "einige Daten", die zu diesem Ergebnis kommen. Weiter verwies Kuleba auf den von Privatunternehmen getätigten Export von sogenannten Dual-Use-Gütern, deren Bestandteile teils auch für Waffen verwendet werden können.

Welche genau das sind, wollen die Experten nun herausfinden: Im Hof des Forschungsinstituts für forensische Expertise lagern dutzende Raketen, Granaten und Drohnen, die Russland auf die Ukraine abgefeuert hat. Eine Schicht Schnee bedeckt die Waffen. Drinnen nehmen die Experten - hauptsächlich ehemalige Militäringenieure - die Wrackteile auseinander und untersuchen sie mit Schraubenziehern, Mikroskopen und Computern.

"Made in Ireland", steht auf einem Teil einer russischen Drohne, in einer anderen steckt eine japanische Kameralinse. Manchmal versuche Russland auch, die Herkunftsangabe zum Beispiel auf Mikrochips zu entfernen, sagt Oleksij, einer der Forensiker. Doch diese Bemühungen seien sinnlos. "Im Grunde ist es egal", sagt er. "Wenn es tausende dieser Mikrochips gibt, was macht es dann für einen Unterschied, wenn sie ein paar unkenntlich machen?"

Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine vor knapp zwei Jahren hatte der Westen weite Teile der russischen Waffenindustrie mit Sanktionen belegt und die Ausfuhr von Militärgütern verboten. Beim Weltwirtschaftsforum im Schweizerischen Davos hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Westen Anfang der Woche aufgefordert, sicherzustellen, "dass die Sanktionen zu 100 Prozent greifen". Kuleba zufolge würde Kiew weniger Hilfe benötigen und weniger Menschenleben verlieren, "wenn alle undurchsichtigen Machenschaften und Schlupflöcher zur Umgehung von Sanktionen gründlich aufgespürt und vollständig geschlossen würden".

China und Türkei dealen mit Russland

Russland feuert jede Woche dutzende Raketen und Drohnen auf die Ukraine ab. Zahlreiche Drohnen stammen aus iranischer Produktion; Nordkorea liefert westlichen Geheimdiensten zufolge Granaten und Raketen. Zudem hat Moskau auch seine eigene Waffenproduktion massiv aufgestockt. Russland ist aber auf den Import von Mikroelektronik und anderer Hightech-Bauteile für seine Raketen angewiesen, weil die heimische Produktion nicht hochwertig genug ist.

Die Website War & Sanctions der ukrainischen Regierung enthält eine Datenbank mit ausländischen Komponenten, die in russischen Waffen gefunden wurden. Die Bauteile sind mit Fotos und nach Ländern aufgeführt, die Liste der deutschen Komponenten ist drei Seiten lang. Es müsse "ständiger Druck" ausgeübt werden, um zu verhindern, dass sich Russland zivile Mikroelektronik beschafft und für die Rüstung missbraucht, sagt Oleksij. Vor allem China, Kasachstan und die Türkei seien an dem Handel beteiligt.

"Russland ist weiterhin in der Lage, große Mengen von Gütern zu importieren, die für die militärische Produktion benötigt werden", heißt es in einem aktuellen Bericht der ukrainischen Denkfabrik KSE-Institut und der internationalen Arbeitsgruppe Yermak-McFaul. Die USA erklärten Anfang Januar, Nordkorea beliefere Russland mit Raketen für den Krieg gegen die Ukraine.

Die Ingenieure in Kiew warten noch auf Wrackteile der mutmaßlichen nordkoreanischen Geschosse. "Wir brauchen Beweismittel und technische Dokumente für die Untersuchung", sagt Oleksij. Doch er zweifelt nicht, dass Pjöngjang seinen engen Verbündeten mit Waffen unterstützt. Schließlich könnten die Raketen einfach über die gemeinsame Grenze geschafft werden.

Untersuchungen auch zu Kriegsverbrechen

Die militärischen Forensiker analysieren die russischen Waffen im Auftrag der Untersuchungsbehörden. Gab es bei einem Angriff zivile Opfer, gehen die Ergebnisse auch an internationale Gerichte, die zu Kriegsverbrechen ermitteln. Oleksij und seine Kollegen forschen nicht nur in ihrem Institut, sie inspizieren auch die Schauplätze der Angriffe. Dabei stellten sie fest, dass die Qualität der russischen Raketen offenbar nachlässt. Sie träfen nicht mehr so genau, sagt Andrij Kultschitskyji, der Leiter des Instituts. Als Beispiel dafür nennt er den Beschuss von Kiew am 2. Januar, bei dem eine Rakete neben einem Wohnblock in der Nähe des Hauptbahnhofs einschlug und vier Menschen tötete.

"Was wir beim Einsatz ihrer sogenannten Hochpräzisionswaffen sehen, ist, dass es an Genauigkeit mangelt", sagt Kultschitskyji. "Wenn sie eine Zielgenauigkeit von sieben bis zehn Metern angeben und die Rakete dann in 50 bis 100 Metern Entfernung einschlägt, bedeutet das, dass es in der russischen Industrie Produktionsprobleme gibt." Mit fehlenden Komponenten habe das nicht unbedingt zu tun.

Am Institut solle auch der russische Kh-32-Marschflugkörper untersucht werden, der Anfang Januar in der Region Sumy im Norden der Ukraine an der Grenze zu Russland auf einem Feld landete, sagt Kultschitskyji. "Der ist einfach vom Himmel gefallen und auseinandergebrochen."

Quelle: ntv.de, gut/AFP


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