“So was wie in Berlin habe ich in Amsterdam nie gesehen“

  19 April 2016    Gelesen: 464
“So was wie in Berlin habe ich in Amsterdam nie gesehen“
Sie ist Journalistin bei der niederländischen Zeitung "NRC" und zurzeit Gastredakteurin bei der "Welt". Anouk van Kampen beobachtet Berlin aus Amsterdamer Sicht – und ist erstaunt über die Drogenwelt.
Berlin, am Görlitzer Park, kurz nach Sonnenuntergang. 20 Köpfe ragen über eine Mauer hinaus. Sie starren regungslos vor sich hin auf den vorbeifließenden Verkehr, fast wie Zombies. Der Eingang zum Park. Wieder stehen dort zehn Männer. "Was machen sie da?", fragen meine Freunde, die gerade für ein paar Urlaubstage in die angrenzende Straße gezogen sind. Erst als wir später durch den Park laufen, verstehen wir es. "Hi … How are you doing … Drugs? Drogen? Weed?"

In meinen vier Wochen Berlin sind mir alle Arten von Drogen angeboten worden. Am Görlitzer Bahnhof versuchten es vor zwei Wochen insgesamt bestimmt 20 Männer, in wenigen Metern Abstand voneinander: auf dem Bahnsteig, auf den Treppen, auf der Straße. Dasselbe am "Kotti", dem Bahnhof Kottbusser Tor. Und als ich mit meinen Freunden einen Klub besuchte, stand den ganzen Abend der gleiche Mann neben den Toiletten. Jedes Mal, wenn wir vorbeigingen, flüsterte er "Koks?"

Dann gibt es noch die Gelegenheitskonsumenten und die Abhängigen, die ganz offen Marihuana in Kneipen rauchen oder andere Drogen in Klubs nehmen. Dabei sind Drogen hier doch verboten?

So etwas wie in Berlin habe ich in Amsterdam nie gesehen

Ich komme nicht aus der Provinz. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in der großen Stadt bin, oder das erste Mal, dass ich Konsumenten oder Junkies sehe oder mir Drogen von Fremden angeboten werden. Ich lebe und arbeite sogar in der "Drogenhauptstadt Europas": in Amsterdam. Die Niederlande sind, wenn es um Drogen geht – und Prostituierte – berüchtigt wie Sodom und Gomorrha oder, je nachdem mit wem man spricht, bekannt wie das Paradies. Doch so etwas, öffentlichen Verkauf und Gebrauch von illegalen Drogen wie in Berlin, habe ich dort noch nie gesehen.

In Deutschland wird über die Legalisierung von Cannabis diskutiert, weil viele besorgt sind um die Drogenproblematik und die damit verbundene Kriminalität. Ist ein niederländisches Modell die Lösung? Ich frage mich, ob es wirklich so einfach ist.

In den Niederlanden werden "leichte" Drogen wie Marihuana, Haschisch und einige Magic Mushrooms toleriert. Der Besitz dieser Drogen in kleinen Mengen wird im Rahmen der "Duldungspolitik" nicht verfolgt und sogenannte "Coffeeshops" und "Smartshops" dürfen sie verkaufen. Damit sind sie nicht mehr illegal und kein Gegenstand von Kriminalität mehr.

In den Händen der Unterwelt

Die Zahl derjenigen, die Drogen nehmen, ist dabei nicht ungewöhnlich hoch. Laut einer 2015 erschienenen Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA), haben 26 Prozent der Niederländer schon einmal Cannabis konsumiert, unter den Deutschen sind es 23 Prozent. In Dänemark und Frankreich, unter anderem, sind es viel mehr: 36 bzw. 41 Prozent. Die Zahl der Niederländer, die noch vor Kurzem Cannabis konsumiert haben, ist viel niedriger: Vierzehn Prozent, in der EU liegt der Durchschnitt bei zwölf Prozent. Magic Mushrooms werden in ganz Europa von etwa einem Prozent der Bevölkerung konsumiert.

Anders als viele denken, sind in den Niederlanden aber selbst leichte Drogen nicht vollständig legalisiert, was die Regierung in eine unangenehme Lage bringt. Eigentlich sind Besitz, Verkauf und Produktion dieser Drogen noch immer strafbar. Die Produktion wird, anders als Besitz und Verkauf von kleinen Mengen, nicht geduldet. Das führt zu der verwirrenden Situation, dass Coffeeshops verkaufen, aber nicht einkaufen dürfen und dass Cannabis-Plantagen ausgehoben werden, weil Tausende Touristen und Niederländer täglich Coffeeshops besuchen. Ein großer Teil des Drogengeschäfts bleibt somit in den Händen der Unterwelt.

Harte Drogen übrigens sind auch in den Niederlanden verboten. Die Tolerierung des Konsums von leichten Drogen führte nicht dazu, dass Konsum und Handel von illegalen Drogen abnahmen. Auf der Straße oder per Telefon werden sie in einigen Gegenden immer noch unter der Hand verkauft. Auf Festivals und in Klubs wird streng kontrolliert, doch Drogen gibt es da immer noch. Im vergangenen Jahr gab es mehrere Todesfälle wegen Ecstasy. Zudem starben drei Touristen, weil ihnen ein Dealer Heroin statt Kokain verkauft hatte. Der blutige Krieg in der Unterwelt forderte erst vor Kurzem ein neues Opfer.

Polizisten sehe ich am "Kotti" kaum

Der Höhepunkt wurde in dieser Woche erreicht, als bekannt wurde, dass die Niederlande Europas Drogenland Nummer Eins sind. Der EU Drug Markets Report der EMCDDA zeigt: Die Niederlande sind Haupterzeuger, -verarbeiter und -durchgangsland von Drogen. Koks erreicht Europa über den Hafen von Rotterdam, und niederländische Ecstasy-Pillen sind in der ganzen Welt verbreitet. Sechs Prozent der Holländer haben schon einmal Ecstasy genommen, drei Prozent der Jugendlichen erst kürzlich. In der gesamten EU liegt der Wert bei durchschnittlich 1,4 Prozent.

Die niederländische "Politik der Toleranz" könnte man eher eine Politik des Wegschauens nennen. Sie unterscheidet sich wenig von dem, was ich in Berlin gesehen habe – mit dem Unterschied, dass hier offizielle Coffeeshops fehlen. Auch in Berlin gelingt es offenbar nicht, Drogen zu verbieten, und auch hier scheint die Polizei wegzuschauen, weil sie den "War on Drugs" verliert.

Es gibt eine Null-Toleranz-Politik, aber Polizisten sehe ich kaum: Am "Kotti" nahmen sie einmal ein paar Dealer fest, im Görlitzer Park sah ich gar keine Beamten. Es weiß ja ohnehin jeder, was da los ist. Im Kampf gegen den Drogenhandel im Park waren Berliner Polizisten von April 2015 bis Mitte März 2016 insgesamt fast 53.000 Stunden im Einsatz, aber das hat offensichtlich nicht zu einer Verdrängung der Dealer geführt. Drogen in Klubs sind verboten, aber es gibt keine Kontrollen am Eingang oder an der Tür zur Toilette. Die Stadt laviert zwischen einer inoffiziellen Politik der Toleranz und einer offiziellen der harten Strafverfolgung, die Anwohner sind unzufrieden und das "Kotti" ist im ganzen Land bekannt.

Jedoch zeigt die Situation in meiner Heimat, dass die Umstellung auf eine offizielle Toleranzpolitik nicht unbedingt die beste Lösung ist. Die Diskussion über Legalisierung von Cannabis geht an einem großen Teil des Problems einfach vorbei. Wenn man einige Drogen legalisiert, verschwinden andere, illegale Drogen nicht automatisch. Wie weit soll es denn gehen, bis zur Legalisierung von Crystal Meth? Legal oder illegal: Drogen, Dealer und Konsumenten gibt es immer noch. Vielleicht ist es Zeit – und das wäre wirklich revolutionär – uns nicht vorrangig mit Gesetzen, Verordnungen, Rechtmäßigkeit und Strafe zu beschäftigen, sondern mit Gründen und Hintergrund für Drogenkonsum, -handel und -produktion – und dann eine Lösung zu suchen.

Quelle : welt.de

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