Wie weit kommt man eigentlich mit einem elektrisch angetriebenen Fahrzeug? Jedenfalls oft nicht so weit, wie der WLTP-Verbrauch oft verspricht. Weil es dann draußen doch wieder zu kalt ist oder die Steigung zu intensiv. Schwamm drüber. Dann muss man eben doch noch eine weitere Ladestation ansteuern. Geschenkt. Doch genau dieser Gedanke führt bei vielen Autofahrern, die noch Verbrenner fahren und vielleicht wechseln wollen, zu Schnappatmung. ntv.de hat den ultimativen Test gemacht, wie weit man mit einem Stromer eigentlich kommen kann.
Für diesen Versuch galt es, sorgfältig das richtige Auto herauszupicken. Der Hyundai Ioniq 6 schien eine interessante Wahl. Er ist mit einem Basispreis von 43.900 Euro nicht übertrieben teuer und bietet dank 800-Volt-Technologe schnelles Laden. Das wird später noch Thema sein. Okay, die Version mit 53 kWh großer (oder vielmehr kleiner) Batterie sollte es für den 6000 Kilometer langen Marathonlauf nicht sein. Dann gibt es ja noch die 77-kWh-Version (229 PS) zu vertretbarem 5000 Euro Aufpreis.
ntv.de wollte allerdings bewusst unter verschärften Bedingungen starten. Ausdrücklich nicht erwünscht war ein Fahrzeug mit 100-kWh-Akkus. Denn für den Trip sollte eine mittlere Reichweite genügen - ein bisschen Herausforderung muss sein. Schließlich weisen die meisten heute verfügbaren Elektroautos eben mittlere und keine gigantisch großen Reichweiten auf. Ein großer Akku ist teuer, dieses Geld kann man sich sparen. Außerdem ist die Batterieproduktion CO2-trächtig, was den CO2-Rucksack entsprechend vergrößert.
Eigentlich sollte es die effiziente Version mit Heckantrieb werden. Hier musste Hyundai passen und hat stattdessen die zwei Tonnen schwere und 325 PS starke Allradversion (52.900 Euro) bereitgestellt. Ja, über 300 Pferdchen unter dem Allerwertesten sind eine schöne Sache, schränken aber auch die Reichweite ein. Schließlich ziehen die beiden Motoren unter dem Blech deutlich mehr Strom. Reale Reichweite? Bei 120 km/h auf der Autobahn um 380 Kilometer. Das wirkt mickrig auf den ersten Blick. Schließlich liegen rund 6000 Kilometer vor dieser roten Limousine.
Wo soll es langgehen?
Und jetzt kommt der spannende Part - wo soll es langgehen? Italien? Nein, zu simpel. Auch nicht Frankreich, Spanien oder Portugal, hier gibt es mittlerweile eine solide Anzahl an Schnellladepunkten, wenngleich sowohl Italien als auch Frankreich in den ländlichen Gebieten "löchrig" aufgestellt sind. Auch Spanien ist jetzt nicht das Elektroautoland schlechthin. Schon gar nicht infrage kamen die skandinavischen Länder oder Benelux - wo bliebe hier die Challenge?
Also wird der Allrad-Ioniq-6 zunächst Kurs auf Österreich nehmen. Von dort aus soll er an der Adriaküste entlang nach Dubrovnik schlendern. Und dann wird es sportlich. Es geht in die bosnische Hauptstadt Sarajevo. Der Part von Dubrovnik nach Sarajevo war insofern interessant, als dass es jetzt knapp 280 Kilometer lang keine Ladesäule geben sollte. Allerdings auch keine Autobahn, was den Stromverbrauch niedrig hält. Perfektes Terrain außerdem, um die kräftigen 605 Newtonmeter Drehmoment (0 auf 100 km/h in 5,1 Sekunden) einzusetzen. Immerhin geht es Richtung bosnisch-serbischer Grenze auf 1200 Meter hoch.
Nach diversen unproblematischen Ladepausen (erst in Sarajevo und später im serbischen Hinterland) geht es auf die E75 - hierbei handelt es sich um die klassische Autoput-Route, auf der sich einst so viele Gastarbeiter gen Deutschland bewegt haben. Die Fahrt auf dieser Strecke ruft mehr ungute Erinnerungen als Reichweitenangst hervor. Denn vor noch gar nicht so langer Zeit war sie durch die Kriegshandlungen der Balkankonflikte unpassierbar - und heute kann man hier mit dem Elektroauto entlangfahren.
Kurz nach dem serbisch-bulgarischen Grenzübertritt geht es nach Sofia. Von dort aus nimmt der Ioniq die Route Richtung Nordgriechenland, wo in der Metropole dieser Region (Thessaloniki) am 50-kW-Lader gezuzelt wird. Nach einem kurzen Stopp an einer der vielen Küsten der Halbinsel Chalkidiki folgt auch schon der Rückweg. Diesmal über das ländliche Bulgarien, Rumänien (Bukarest) und Wien im Schnelldurchlauf. Und von Wien schließlich zurück zum Startpunkt nach Nordrhein-Westfalen.
Reisen mit Elektroantrieb klappt gut
Und das Resümee? Dass der 4,86 Meter lange Ioniq 6 ein properer Reisewagen ist mit bequemen Sitzen und jeder Menge Platz. Und dass man mit elektrischem Antrieb sehr wohl ganz gut reisen kann. So könnte man es oberflächlich beschreiben. Bevor Sie bereits schäumen, lieber Leser - ja, es kann immer mal wieder klemmen, ist doch logisch. Und an dieser Stelle muss noch einmal betont werden, dass das Laden länger als das Befüllen eines Benzin- oder Dieseltanks dauert. Aber an Ladesäulen mit 300 kW lädt der Koreaner zügig. Das vom Werk gegebene Versprechen, den Akku binnen 18 Minuten von 10 auf 80 Prozent laden zu können, hält der Ioniq 6 ein. Punkt an die Ingenieure!
Ich möchte der Leserschaft an dieser Stelle keineswegs vorenthalten, dass auch kleine Malheure passierten, die es mit einem Verbrenner vielleicht nicht gegeben hätte in dieser Form. Kurz vor Graz wär es beinahe passiert, der Ioniq 6 wäre fast gestrandet. In einem Anflug von Wagemut habe ich den Ladestand auf unter 25 Kilometer heruntergefahren in der vermeintlichen Gewissheit, bei einer Ionity-Ladestation könne es keine Fehler geben. Genau das war schon der erste Fehler. Die Ionity-Säule mochte den Ioniq nicht und umgekehrt. Kommunikationsfehler. Keine Chance. Also habe ich in Ermangelung an Alternativen 60 Minuten mit Wechselstrom geladen, um den nächsten Schnelllader erreichen zu können. Hat zum Glück funktioniert. Diese Situation hat mir Respekt eingeflößt. Ich muss ein bisschen vorsichtiger werden, mehr Reserve lassen beim nächsten Laden.
Keine großartige Planung erforderlich
Geplant habe ich die Tour nicht sonderlich akribisch. Klar, einen groben Überblick muss man sich verschaffen. Das Ladenetzwerk an der Adriaküste ist lange nicht so dicht wie in Deutschland. Aber es langt für ein Vehikel mit 77-kWh-Akku. Locker sogar. Zagreb, Zadar und Split. Kein Problem. Hier klappt es noch mit den Partner-Ladesäulen von ENBW und der Mobility-Plus-App. Aber Vorsicht. Oftmals gibt es bloß 50 oder 100 kW - damit dauert das Laden länger. Defekte Ladesäulen waren allerdings nicht das Problem.
Mehr Abenteuer war ab Dubrovnik zu erwarten. Schließlich funktionierte hier die vertraute App nicht mehr und wie der Zustand der Ladesäulen sein würde, war ungewiss. Dass in Sarajevo eine 50-kW-Station mit zuverlässigem Alpitronic-Gerät steht, war eine Überraschung. Wer als Elektro-Neuling in diese Region reist, sollte sich ein bisschen mit der App-Thematik beschäftigen. Die Apps "e-Go-Charger" sowie "Charge&Go" helfen in Bosnien und Serbien. Apropos Serbien. In diesem tendenziell elektromuffeligen Land finden sich in durchaus überwindbaren Distanzen etliche Ladesäulen, die sogar zuverlässig funktionieren.
Und so manche neue Erkenntnisse verwundern. Das nördliche Griechenland ist eher Ladesäulenwüste mit nahezu ausschließlich 50-kW-Ladern (es gibt vereinzelt aber auch stärkere Säulen) und einer sehr zerklüfteten App-Landschaft. Mit der halbwegs solide programmierten Anwendung "ElpeFuture" lässt sich allerdings zurande kommen. Dagegen ist das deutlich jüngere EU-Land Bulgarien hier deutlich fortschrittlicher aufgestellt mit ganzen Ladeparks und erklecklichen Ladeleistungen von 200 Kilowatt oder mehr. Gleiches gilt für Rumänien und Ungarn.
Für Bulgarien, Rumänien und Ungarn empfehlen sich übrigens die Anwendungen Plugsurfing oder Shell Recharge. Mit den meisten hierzulande üblichen Ladeapps ist der Südosten Europas bloß schwach abgedeckt. In Wien angekommen, merkt man dann doch, dass Österreich und Deutschland besser auf elektrische Antriebe ausgerichtet sind als das östliche Europa. Anderseits: Dort gibt es aktuell auch weniger BEV. Aber das wird sich ändern.
Unterm Strich lässt sich konstatieren, dass das Reisen mit elektrischem Antrieb selbst durch Gebiete mit eher kritischer Ladeinfrastruktur wie dem Balkan machbar ist. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass man in fremder Umgebung vor allem nachts immer wieder damit kämpft, die Ladesäule zügig zu finden. Aber in solchen Situationen muss man entspannt bleiben. Generell sollte man mit dem Elektroauto entspannt bleiben.
Eigentlich hätte diese Elektroautoreise erst in zwei oder drei Jahren stattfinden sollen, doch der zwischenzeitliche Befund zum Ladesäulennetzwerk hat meine Entscheidung angestoßen, das Experiment früher durchzuführen. Nach 6000 Kilometern binnen unter zehn Tagen mit dem Elektroauto durch Südosteuropa bin ich wieder ein Stück entspannter geworden beim elektrischen Fahren durch Deutschland und muss schmunzeln, wenn Freunde und Kollegen über besetzte oder defekte Ladesäulen lamentieren.
Quelle: ntv.de
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