Eine neue Kandidatin ist wie ein neues Leben

  07 Auqust 2024    Gelesen: 403
  Eine neue Kandidatin ist wie ein neues Leben

Beim ersten gemeinsamen Wahlkampfauftritt zeigen sich Präsidentschaftskandidatin Harris und ihr frisch auserwählter Vize Walz angriffslustig. Die Halle platzt aus allen Nähten. Auf den Straßen drumherum helfen Livestreams.

Nach zwei Stunden des Wartens ballt eine junge Frau kurz vor der Sicherheitskontrolle die Faust, schließt die Augen und grinst ein wenig. Sie und Tausende andere Menschen wollen noch in die ohnehin schon brechend volle Basketballhalle der Temple University in Philadelphia. Auf einem Handy ist die Stimme von Tim Walz zu hören. Der Stunden zuvor verkündete Vizekandidat von Kamala Harris redet über Abtreibungen, dass die Menschen ihre eigenen Entscheidungen über ihre eigenen Körper treffen sollen.

"Manche von uns erinnern sich daran, als die Republikaner über Freiheit geredet haben", sagt Walz: "Nun stellt sich heraus, dass sie meinten, dass die Regierung in Arztpraxen eindringen darf!" Die mehr als 10.000 Menschen reagieren mit Buhrufen. "In Minnesota respektieren wir die Entscheidungen unserer Nachbarn, auch wenn wir sie nicht für uns treffen würden", führt der Gouverneur des Bundesstaats Minnesota aus. "Es gibt eine goldene Regel: Kümmere Dich um Deinen eigenen verdammten Kram!" Das Publikum jubelt frenetisch.

Der Freiheitsbegriff, das hatte Harris schon bei ihrem ersten Wahlkampfauftritt aufblitzen lassen, werden die Demokraten nicht den Konservativen überlassen, sondern darum kämpfen. Walz reiht sich bei seinem ersten Auftritt mit der Präsidentschaftskandidaten nahtlos ein. Beide sind auf Angriff gebürstet. Harris mit ihrem schon typischen Satz, den sie als ehemalige Staatsanwältin sagt: "Ich kenne Donald Trumps Typ!", was begeistertes Jubeln in Nahorkanstärke auslöst. Walz ist authentisch und knallhart, bezichtigt den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Trump als Alltagsfremden. "Er kämpft nicht für Euch oder Eure Familie." Stattdessen überlege der sich in Mar-a-Lago, wie er Steuern für seine reichen Freunde senken könne.

Mit aller Wucht

An diesem Dienstag starten die US-Demokraten in Philadelphia mit aller Wucht in einen Wahlkampf um die Präsidentschaft, der schon fast verloren schien, bevor er überhaupt begonnen hatte. Bevor Präsident Joe Biden sich selbst demontierte und am Ende zugunsten von Harris verzichtete.

Bereits Stunden vor Beginn des Wahlkampfauftritts im so wichtigen Staat Pennsylvania haben sich die Menschen in die Halle geschoben, und als die Veranstaltung am späten Nachmittag beginnt, stehen sie noch immer kilometerweit an. Die Halle ist längst rappelvoll, aber mehr und mehr hoffen darauf, einen Blick zu erhaschen. Spätestens, als Pennsylvanias Gouverneur Josh Shapiro auf die Bühne tritt, werden draußen überall die Handys gezückt, um wenigstens per Livestream dabei zu sein. Sowohl drinnen als auch draußen ist zu sehen: Das Publikum ist wesentlich jünger, weiblicher und diverser als bei Trumps Veranstaltungen.

Nach Shapiro kommen Harris und Walz auf die Bühne. Sie strahlen vor Freude, insbesondere der Vizekandidat bekommt sich kaum ein, legt immer wieder seine Hand aufs Herz. Walz, der früher Soldat, Lehrer und American-Football-Trainer war. Der einst als Abgeordneter für einen Wahlkreis im Repräsentantenhaus saß, der für Trump stimmte. Der als Gouverneur seit 2018 eine progressive Sozialpolitik durchdrückt. Es wird deutlich, was die vergangenen zwei Wochen bewirkt haben: Die neue Kandidatin ist wie ein neues Leben für die Demokraten. Es ist der Jubel der Erleichterung, eine drohende Niederlage und erneute vier Jahre Trump doch noch abwenden zu können, der durch die Halle und die Menschen auf der Straße fegt. Aber da ist auch der Blick nach vorn, dass etwas Neues, Besseres als Biden kommen könnte.

"Er ist einfach Minnesotas Dad", sagt Alec McGlasson über Walz, der sich nicht davon beirren lässt, dass in der Halle längst geredet wird. Der 25-jährige IT-Spezialist ist wie viele andere spontan gekommen, als er hörte, dass Walz und Harris in der Stadt sind. Er ist nicht der Einzige, der begeistert von der Wahl ist. Alec McGlasson gefällt, wie der Gouverneur in Minnesota erneuerbare Energien gestärkt, das Schulessen gratis gemacht und bezahlte Elternzeit im Bundesstaat eingeführt hat. Für zu progressiv hält er Walz auf keinen Fall. "Ich hätte nur widerwillig für Biden gestimmt", sagt er. "Er hätte ohnehin kaum Chancen gehabt, Trump zu schlagen." Harris hingegen habe eine ganz andere Energie.

"Strafverfolgerin gegen Verurteilten"

Die Menschen haben sich mehr als zwei Stunden mehrere Kilometer durch die Stadt gewunden. An Harris-Fanartikeln vorbei, aber auch an Trump, dessen Gesicht auf einem orangen, fünf Dollar teuren Anstecker hinter Gittern prangt - samt spöttischem "Make Amerika Great Again". Ein dünnes Handtuch mit "Die Strafverfolgerin gegen den Verurteilten" gibt es für 10 Dollar. Es geht endlich hinein, aber in den "Überlaufbereich", eine kleinere Sporthalle auf dem Campus, die ebenfalls gefüllt ist. Die Menschen vertreiben sich das Warten tanzend, eine DJane legt Musik auf, hinter ihr ist "Fight! Fight! Fight!" an die Wand gemalt - als hätte die Schule sich über Trump lustig machen wollen. So sei es aber nicht, sagt ein Mitarbeiter, lediglich ein Anfeuerungsruf der Sportmannschaften.

In der Haupthalle haben sich Harris und Walz schon verabschiedet, aber Shapiro kommt auch auf die Bühne im Überlaufbereich, um seiner neuen Aufgabe gerecht zu werden: Der Gouverneur musste Walz den Vortritt als Vizekandidat lassen, soll aber sicherstellen, dass Pennsylvania im November erneut die Demokraten wählt. Dafür peitscht er die Anwesenden ein paar Minuten lang an. "Eure Verantwortung ist, Pennsylvania zu gewinnen!", sagt er unter lautem Jubel. Noch länger macht er danach an den Wellenbrechern zahllose Fotos, Selfies, spricht mit den Anwesenden. Wahlkampf zum Anfassen.

So schnell kann sich der politische Wind im Wahlkampf drehen. Harris liegt nach zwei Wochen inzwischen im nationalen Umfrageschnitt hauchdünn vor Trump, der Graph geht steil nach oben. Walz und Harris gehen nach diesem Auftritt in Philadelphia auf eine Wochentour durch die sogenannten Battleground States: die mutmaßlich entscheidenden Bundesstaaten für einen möglichen Wahlsieg gegen Donald Trump im November. Sie kommen mit einer Reihe von Botschaften, die sie wiederholen werden: Trump und sein Vize J.D. Vance sind "komisch". Oder: Wir gehen nicht zurück in Trumps Welt. Und: Kümmert Euch um Euren eigenen Kram, wir uns um die Zukunft des Landes.

Vor der Halle reiht sich die Eskorte für die hohen Gäste auf, Polizei auf Motorrädern, Autos mit Blaulicht, kantige, schwarze SUVs mit getönten Scheiben. Die Kolonne setzt sich in Bewegung, rast die Broad Street in Richtung des Rathauses von Philadelphia hinunter. "Das war sie, das war sie!", ruft an einer Straßenecke eine Handvoll junger Frauen. Sie hüpfen vor Freude.

Quelle: ntv.de


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