Es ist schon außergewöhnlich, wenn Volvo mit einer Neuvorstellung ausgerechnet in die Vereinigten Staaten geht. Gut, der ausgewählte Bundesstaat Kalifornien ist elektrisch angetriebenen Fahrzeugen zugetan. Aber eine schwedische Marke in den USA? Doch die Amerikaner lieben Volvo. Und der Markt ist groß sowie reich an zahlungskräftiger Klientel - genau richtig für den EX90 also. Außerdem wird das auf der sogenannten SPA-II-Plattform basierende SUV im Werk bei Charleston in South Carolina produziert. So gesehen könnte die Ortsauswahl strategisch Sinn ergeben.
Und bei uns? Dürfte der EX90 durchaus ebenso auf Gegenliebe stoßen, schließlich sieht das Flaggschiff attraktiv aus - persönlicher Geschmack hin oder her. Das Styling der Front kennt man bereits vom EX30, es sieht extravagant aus mit der konkav in den Kühlergrill eingelassenen Querspange. Ach nee, eine Querspange ist das ja gar nicht mehr - vielleicht, weil es beim EX90 ja auch keinen klassischen Kühlergrill mehr gibt. Denn das 5,04 Meter lange SUV der Businessklasse wird es bloß noch mit rein elektrischem Antrieb geben. Und da wird eben anders gekühlt als beim Verbrenner.
Wen das jetzt schockiert und wer Lust hätte, Volvo für diesen Schritt zu beschimpfen: Erstens hatten die Schweden ihre konsequente Elektrifizierungsstrategie ja oft kommuniziert. Und zweitens gibt es gleichzeitig auch Entwarnung: Denn der 2022 scheidende Volvo-Chef Samuelsson hatte ja schon vor geraumer Zeit bestätigt, dass der segmentgleiche XC90 weiterhin zu haben sein wird. Und wer die Medien aufmerksam verfolgt, konnte schon vor einigen Monaten erfahren, dass das große SUV noch mal ein umfangreiches Facelift bekommen würde (mehr dazu bei ntv.de schon in wenigen Tagen).
Mit riesigem Akku
Aber zurück zum EX90. Denn der steht jetzt nach langer Wartezeit endlich zu ersten Testfahrten bereit. Und man weiß nach dem Entern gar nicht, wohin man zuerst blicken soll. Auf die nobel anmutenden Holzeinlagen? Die anschmiegsamen Lederpolster, die in Wirklichkeit gar kein Leder enthalten, sondern aus anderweitigen Recyclingmaterialien hergestellt werden (wie auch immer das funktioniert, aber man merkt es nicht)? Auf die kleine Schwedenflagge in der Zierleiste als sogenanntes "Easteregg" oder etwa auf das kleine Display vor der Nase des Fahrers? Ich schaue definitiv auf das Display, denn hier wird neben dem Tempo auch die Reichweite angezeigt.
Und ich bin vor allem neugierig, wie weit man mit 111 kWh Strom kommt, den die EX90-Batterie bunkert. Das ist selbst für große SUV ordentlich. Allerdings ist ein SUV ein SUV und bleibt ein SUV: 310 Meilen, also umgerechnet 480 Kilometer Reichweite bei 95 Prozent Ladestand und rund 25 Grad Außentemperatur sind jetzt nicht so richtig überwältigend. Damit soll nicht gesagt werden, dass das bei anderen Herstellern und Modellen besser wäre, aber ein Stromer ist eben kein Diesel, das müssen potenzielle Kunden einfach wissen.
Egal, jetzt wird losgefahren. Und schon entschädigt der luftgefederte 2,8-Tonner (ja, richtig gelesen, bis zu 2780 Kilogramm beträgt das Leergewicht) für die Reichweitenthematik. Volvo hat lediglich die 517 PS starke Performance-Variante mitgebracht, die zwei Aggregate enthält, und nicht das einmotorige Basismodell mit 279 PS. Und das ist ein ganz schönes Drehmomentmonster angesichts 910 Newtonmetern. Entsprechend wuchtig legt der Schwede los. Wobei die Ingenieure eine sanfte Fahrpedalkennlinie programmiert haben: Aus dem Stand fährt der Allradler trotz voller Last erst einmal sachte an, bevor der richtige Schub kommt, wenn man weiter maximalen Strom gibt. Doch nicht die Fahrleistungen faszinieren, sondern der Fahrkomfort.
Flüsterleises SUV
Denn erstens ist der EX90 gefühlt flüsterleise: Selbst auf dem Highway bei umgerechnet etwa 120 km/h bleiben Windgeräusche nahezu aus. Auch das Abrollen erfolgt ziemlich geräuscharm. Und dann wäre da noch das geschmeidige Fahrwerk. Ohne jetzt hochwissenschaftlich zu werden: So sanft hat bisher noch kein Volvo gefedert. Und darüber hinaus haben die Techniker dem Allradler trotz der hohen Masse noch eine gewisse Leichtigkeit mit auf den Weg gegeben.
Eine ganz schöne Perspektive für die nächste geplante längere Reise. Nur dass eben von Zeit zu Zeit halbstündliche Pausen zwangseingeplant werden müssen. Denn das Laden von 10 auf 80 Prozent beziffern die Skandinavier mit exakt 30 Minuten bei einem Leistungspeak von 250 kW. Das dürfte bei einem gerade frisch entwickelten Auto in dieser Preisklasse ruhig ein bisschen schneller gehen.
Dafür gibt es ganz viele Assistenten, die hier in den USA in der Kürze der Zeit kaum Verwendung fanden. Jedenfalls wartet der EX90 mit Lidar (erkennt sogar noch 250 Meter entfernte Objekte) auf plus acht Kameras sowie fünf Radarsensoren. Das sind geradezu raue Mengen an Sensorik. Positiv aufgefallen ist jedenfalls, dass er nicht wie wild am Lenkrad zerrt.
Und auch wenn die Zeit für die intensive Beschäftigung mit dem neuen Infotainment (das jetzt auch Over-the-Air-Updates beherrscht) hier gefehlt hat, muss man doch sagen, dass die wichtigsten Dinge einfach zu bedienen sind mit dem googlebasierten System. Es gibt jedoch auch Schwachpunkte. Die Spiegel ausschließlich per Touchscreen einstellen zu können, ist ein Ärgernis. Wenngleich eine cleane Armaturenlandschaft ohne Knöpfchen noch so schön aussehen mag. Auch das Handschuhfach wird dort entriegelt. Und wenn der Screen mal ausfällt? Und warum gibt es keine Grafik auf dem kleinen Anzeigeinstrument, die über die Intensität der Bremsrekuperation informiert? Interessiert vielleicht nur wenige Leute - wäre aber dennoch schön.
Dafür ist der unglaublich schön designte Volvo verdammt praktisch, trumpft beispielsweise über 2000 Liter Laderaumvolumen auf. Und es gibt eine dritte Sitzreihe, die allerdings leicht beschwerlich zugänglich ist - außer für Kinder. Ach ja, und so schwer dieser Volvo auch ist - er darf 2,2 Tonnen an den Haken nehmen. Keine schlechte Sache, auch wenn das Laden mit einem großen Anhänger aktuell noch ein schwieriges Unterfangen darstellt. Denn manche Ladeplätze sind schlicht nicht befahrbar mit Trailer am Haken.
Unter dem Strich ist der EX90 ein spannendes Projekt, mal sehen, ob die Kunden das auch so sehen. Ob man damit in 4,9 Sekunden auf 100 km/h rauschen muss, sei dahingestellt. So tut es sicher auch die Basis und in der Topspeed sind ohnehin sämtliche Ausgaben bei 180 km/h abgeregelt. Aber selbst die Grundversion kostet schon 83.700 Euro (5,9 Sekunden bis 100 km/h). Am Konfigurator können Sie sich schon mal austoben. Bleibt zu hoffen, dass Volvo mit dem EX90 jetzt zügig ans Ausliefern kommt.
Quelle: ntv.de
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