Im Süden Israels gibt es (noch) kein Leben wie zuvor

  07 Oktober 2024    Gelesen: 65
  Im Süden Israels gibt es (noch) kein Leben wie zuvor

Nach dem Hamas-Überfall vor einem Jahr kehrt im Süden Israels nur langsam so etwas wie Normalität zurück. Viele Menschen trauen sich nicht, in ihre Häuser zurückzuziehen. Im Kibbuz Yad Mordechai, an der Grenze zu Gaza, hat die ewige Selbstbehauptung Tradition.

Das Grauen des Hamas-Terrors hätte auch den Kibbuz Yad Mordechai treffen können: Als vor einem Jahr tausende Hamas-Kämpfer und Zivilisten aus dem Gazastreifen nach Israel eindrangen, töteten sie 1200 Menschen und entführten 251 weitere. Die Attentäter brandschatzten, vergewaltigten und folterten. Es war der größte Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Wäre es nach der Hamas gegangen, es hätte auch die Menschen im Kibbuz Yad Mordechai getroffen, drei Kilometer nördlich des eingezäunten Gazastreifens.

"Am 07. Oktober versuchten Hamas-Terroristen mit Motorrädern und Pick-ups Trucks zweimal in den Kibbuz einzudringen", erinnert sich der 92-jährige Mischka Pressler. "Nur dank der Anwesenheit mehrerer Grenzschutzsoldaten und dem schnellen Eingreifen unseres Sicherheitsteams konnte es vereitelt werden. Es grenzt an ein Wunder, dass uns nicht das gleiche Schicksal widerfuhr wie den anderen Gemeinden." In Nir Oz, Kfar Aza und Be´eri, oder auch in der Stadt Sderot unweit von Yad Mordechai verübten die palästinensischen Angreifer schlimmste Gräueltaten.

Geschichte wiederholt sich

Den Kampf um das Überleben seines Kibbuz hatte Pressler schon einmal erlebt: Das Gebiet wurde kurz nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 von ägyptischen Truppen besetzt. Sechs lange Monate leisteten die Bewohner des Kibbuz erbitterten Widerstand gegen die zahlenmäßig überlegene Armee Ägyptens, bis schließlich die Soldaten des neu gegründeten Israels zu Hilfe kamen. Ortschaften, die am 7. Oktober auf die Hilfe ihrer Armee warteten, warteten zu oft vergeblich: Der Hamas-Überfall am frühen Morgen eines Feiertages hatte die Sicherheitsapparate komplett überrascht.

In Yad Mordechai war man rechtzeitig informiert, auch durch Bewohner anderer angegriffener Siedlungen. Grenzsoldaten und die wehrbereiten Bewohner sicherten die Siedlung ab. Später eingetroffene israelische Soldaten nutzten jene Schützengräben aus dem Jahr 1948, die Teil des örtlichen Holocaust-Museums sind, das auch an den Überlebenskampf von 1948 erinnert. Doch auch in Yad Mordechai ist das Leben seither nicht mehr dasselbe. Die meisten Bewohner waren in den Wochen und Monaten nach dem 7. Oktober anderweitig untergebracht, während in Sichtweite zum Kibbuz der Krieg gegen die Hamas tobte. Insgesamt brachte die Regierung 100.000 Menschen außer Reichweite der Raketen aus dem Gazastreifen.

Zögerliche Rückkehr

Nach Angaben der israelischen Armee sind in den letzten Monaten über 70 Prozent der Bewohner, die zwischen vier und sieben Kilometer vom Gazastreifen entfernt leben, wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Und das obwohl einige dieser Gebiete weiterhin militärisches Sperrgebiet sind. In die Ortschaften entlang der Grenze kehrten nur knapp fünf Prozent der Bewohner zurück. Eine Ausnahme ist die Stadt Sderot mit 83 Prozent Rückkehrquote.

Angst und Skepsis sind teilweise groß. "Man sollte Verständnis dafür haben, wenn die Bewohner selbst entscheiden, in ihre Gemeinden zurückzugehen," sagt Adi Me´iri, Sprecherin der Regionalverwaltung Sha’ar HaNegev, der 13 Ortschaften unweit Gazas unterstellt sind. "Noch kann niemand versprechen, dass unsere Sicherheit wiederhergestellt wird. Es sollte also zunächst einen Dialog und einen Wiederaufbau des Vertrauens geben. Das wird aber nicht funktionieren, wenn wir gezwungen werden, zu einem bestimmten, von der Regierung einseitig festgelegten Datum nach Hause zu gehen."

Die Menschen kehren nur schrittweise und vorsichtig zurück. "Auch wenn das Leben weitergeht, wird es nie wieder so sein wie früher," erklärt Me´iri. "Es bleibt eine gewisse Angst und die wird dadurch verstärkt, dass viele der Geiseln, die noch immer von der Hamas in Gaza festgehalten werden, aus diesen Ortschaften stammen. Unser Heilungsprozess wird erst anfangen, wenn der Krieg endet und alle zurückkehren."

"Die Menschen wollen nach Hause und nicht weiterhin als Vertriebene leben", sagt Michael Milstein, Dozent für palästinensische Studien an der Tel Aviv Universität. "Doch eine Reduzierung der Israelischen Streitkräfte (IDF) könnte unweigerlich dazu führen, dass die Hamas ihre Kontrolle in Gaza wiedererlangt, was in einigen Gegenden langsam geschieht. Dies hätte strategische Auswirkungen." Die Zahl der Raketenangriffe aus Gaza sei zwar zurückgegangen, der Beschuss sei aber nicht unbedingt das, was die Bewohner Südisraels am meisten fürchten. "Wenn die Hamas ihre Macht wiedererlangt, bedeutet das, dass die IDF sie nicht stürzen konnte", sagt Milstein. "Auch wäre es dann unangebracht, über den Tag danach und die neue Ordnung in Gaza zu diskutieren. In so einer Situation würde niemand in diese Gegend ziehen."

Angriff mit Symbolik

In Yad Mordechai ist inzwischen die Hälfte der Einwohner zurück. Der Holocaust-Überlebende und Landwirt Mischka Pressler freut sich auch über 18 Neugeborene unter den Rückkehrern. "Es gibt wieder Leben im Kibbuz," sagt Pressler. "In der hebräischen Zahlenmystik, steht die Zahl 18 für das Wort Chai (Leben). Und dies ist das jüdische Zeichen für Glück."

Pressler hatte 1948 selbst gegen die Ägypter gekämpft. Wie die meisten Bewohner der Ortschaft wurde auch er noch am 7. Oktober evakuiert. Eine Woche später kam er mit Mitgliedern des Sicherheitsteams zurück und entdeckte, dass eine Rakete im Holocaust-Museum des Kibbuz eingeschlagen war. Die Nachbildung eines Bunkers war beschädigt, es gab zudem Wasserschäden. Der Bunker erinnert an das Wirken von Mordechai Anielewicz. Der Anführer des Aufstands im Warschauer Ghetto ist Namensgeber des Kibbuz, ihm ist auch eine Statue gewidmet.

Mordechai ist ein Symbol jüdischer Selbstbehauptung ebenso wie das Kibbuz nach seinen Abwehrkämpfen 1948 und 2023. "Diese Rekonstruktion ist die Verkörperung des zivilen Widerstands", sagt Pressler über den aus Gaza beschossenen Bunker. "Symbolischer geht es nicht. Die Ironie dieses Vorfalls lässt sich kaum ignorieren, denn er erinnert uns daran, dass Antisemitismus auch 80 Jahre nach der Shoah allgegenwärtig ist."

Quelle: ntv.de


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