Diego Simeone treibt Atlético zum Maximum

  28 April 2016    Gelesen: 959
Diego Simeone treibt Atlético zum Maximum
Der FC Bayern trifft im Halbfinale der Champions League auf Atlético Madrid. Die Rojiblancos haben nicht das Geld der Top-Klubs - und trotzdem spielen sie im Konzert der Großen mit. Warum? Der Mann hinter dem Erfolg ist Diego Simeone.
"Du brauchst Furcht in diesem Sport. Das gibt dir Mut und lässt dich wachsam bleiben." Diego Simeone philosophiert gerne auf der Metaebene über die Grundtugenden im Fußball - über die Grundtugenden, die er von seiner Mannschaft erwartet. Er ist ein gottgläubiger, harter Arbeiter, der in Argentinien auf den Straßen von Buenos Aires aufwuchs. Doch es gibt noch einen anderen Diego Simeone. Jenen, der Gegner und Zuschauer mit wilden Gesten und teils unfairen Handlungen zum Kopfschütteln bringt. So wandelt " Cholo" zwischen den Welten. Zwischen Aggressivität und Aggression. Zwischen Genie und Wahnsinn. Seine Spieler verehren ihn. Die Fans lieben ihn. Alle Gegner hassen ihn. Und zu allem Überfluss hat das Enfant terrible der Trainerelite seit Jahren Erfolg auf der ganz großen Bühne des Fußballs.

Er steht mit Atlético Madrid auf Tabellenplatz zwei der spanischen Primera División, punktgleich mit dem FC Barcelona, einen Zähler vor dem Stadtrivalen Real. Und heute empfangen er und seine Mannschaft in der Champions League den FC Bayern (ab 20.45 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) im Estadio Vicente Calderón zum Hinspiel des Halbfinals. Das Rampenlicht ist für Diego Simeone nicht neu. Schon als Spieler stach er aus der Masse heraus. Er diente als Kapitän der Nationalelf unter seinem Vorbild Daniel Passarella. Er provozierte David Beckhams Platzverweis bei der Weltmeisterschaft 1998. Er trug die Trikots von Lazio und Internazionale bei hitzigen italienischen Schlachten. Dass er Mitte der 2000er Jahre Shorts und Fußballstiefel gegen schwarzen Anzug und Lederschuhe tauschte, änderte wenig an seiner Persönlichkeit. Rüpel bleibt Rüpel, mögen seine Kritiker sagen. Doch es gab stets die andere Seite des Diego Simeone. Als Aktiver auf dem Rasen war er ein laufstarker Mittelfeldakteur, der, wenn es von ihm verlangt wurde, auch auf dem Flügel aushalf. Er verstand die Abläufe komplexer taktischer Systeme seiner Trainer - wie etwa Luis Aragonés oder Marcelo Bielsa.

Pressing, Pressing und nochmals Pressing

Mittlerweile hat Diego Simeone selbst seine Spuren als Taktiker hinterlassen. Der 45-Jährige ist hauptverantwortlich für den Erfolg von Atlético. Unter ihm gewannen die Rojiblancos die spanische Meisterschaft und die Europaliga, sie standen im Finale der europäischen Königsklasse. Selbst nach dem Verlust einiger Schlüsselspieler an finanzstärkere Klubs hielt er Atlético auf Kurs. Auch in dieser Saison spielen die Madrilenen wieder auf unglaublich hohem Niveau. Das haben sie in erster Linie ihrer Defensivstärke zu verdanken. Simeone greift dabei auf Erfahrungen aus seiner Spielerzeit zurück, während er gleichzeitig eigene Elemente entwickelt.


Atlético formiert sich zumeist im 4-4-2. Aus dieser Grundordnung heraus reagieren Simeones Spieler flexibel auf die Strukturen des Gegners. Sie können mit einzelnen Mittelfeldakteuren herausrücken, Zonen kontrollieren oder Manndeckung spielen. Und alle Prozesse in der Arbeit gegen den Ball verlaufen flüssig. Die Rojiblancos wechseln fehlerlos von Angriff- auf Mittelfeld- und gegebenenfalls auf Abwehrpressing. Sie haben ein Konzept gegen Flügel- ebenso wie gegen Zentrumsangriffe. Sie verändern gezielt den Verteidigungsrhythmus, um sich Pausen zu gönnen oder den Gegner zu überraschen. Atléticos Defensivstärke schlägt sich deutlich in den Zahlen nieder. Sie lassen pro Spiel nur 2,57 Schüsse aufs eigene Tor zu.

Und die Gegner schießen dabei durchschnittlich aus über 19 Meter Entfernung. Der Strafraum Atléticos verkommt häufig zur Festung. Und sollte es doch feindliche Eindringlinge geben, verteidigen im Abwehrzentrum gewiefte Zweikämpfer wie Diego Godín und sein junger uruguayischer Landsmann José María Giménez. Diego Simeone gibt seiner Mannschaft einen taktischen Plan an die Hand, während der Partien treibt er sie wild gestikulierend an. Er dirigiert die Bewegungen seiner Spieler - und fordert Leistungsbereitschaft.

Kampf der Kulturen mit Josep Guardiola

Der Wille, alles zu geben, prägt seine Karriere. "Als Fußballspieler habe ich das Maximum aus meinen begrenzten Möglichkeiten herausgeholt. Und weißt du, warum? Weil ich Leidenschaft habe. Wie hätte ich bei meinem Spielniveau hundert Spiele für Argentinien machen können! Als Spieler war ich Mittelmaß.", wird Simeone von Lorenzo Buenaventura in Martí Perarnaus Buch "Herr Guardiola" zitiert. Jener Buenaventura ist Fitnesstrainer beim FC Bayern. Josep Guardiola und seine spanischen Kollegen im Trainerstab kennen Simeone genau. Sie hatten sich schon 2014 auf ein Duell mit den Rojiblancos vorbereitet. Die Auslosung bescherte damals jedoch andere Duelle. Nun kommt es zum Aufeinandertreffen dieser beiden Fußballphilosophen. Während Guardiola der bekannteste Verfechter des offensiven Positionsspiel (Juego de Posición) ist, sticht Simeone mit seiner eigenen Form des Positionsspiels hervor - nur eben in der Defensive.

Die teils versetzte Staffelung der Rojiblancos, wenn sie im Pressing den gegnerischen Spielaufbau bekämpfen, greift Elemente auf, die Guardiola wiederum in der Offensive nutzt. Da die Rojiblancos eben nicht einfach in geraden Linien aufgestellt sind, können sie Zonen effektiver kontrollieren und Verfolgungsläufe zur Manndeckung einzelner Akteure besser absichern. Atléticos Strategie zielt jedoch nicht nur darauf ab, den eigenen Kasten sauber zu halten. Sie versuchen durchgängig, Ballgewinne zu erzielen und die Gegner mit Konterangriffen zu überrumpeln. In diesem Kontext bietet das Duell mit den Bayern höchstwahrscheinlich die perfekten Bedingungen. Der deutsche Rekordmeister wird das Spiel kontrollieren, Atlético wartet unterdessen auf den perfekten Moment, um zuzuschlagen.

Beim Viertelfinalrückspiel gegen Barcelona vor wenigen Wochen blieben die Rojiblancos selbst im heimischen Stadion ihrer Bestimmung treu. Sie hatten lediglich 27 Prozent Ballbesitz und spielten nur 122 erfolgreiche Pässe, hatten aber mehr Torchancen als der Gegner und gewannen die Partie. Guardiola ist gefordert, eine Antwort zu finden, die sein ehemaliger Club in der vorherigen Runde nicht geben konnte. Nicht zum dritten Mal in Folge möchte er im Halbfinale der Königsklasse ausscheiden. Der oftmals grübelnde Trainer der Münchner ist die größere Unbekannte in diesem Duell. Denn Simeones Rolle heute scheint klar. Er wird wieder einmal wild gestikulieren, das Publikum anheizen und zwischendurch ein paar taktische Anweisungen geben - die sich nicht selten als genial erweisen.

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