Abgesang auf einen Sehnsuchtsort

  05 Mai 2016    Gelesen: 629
Abgesang auf einen Sehnsuchtsort
"Marseille" mit Gérard Depardieu ist die erste europäische Eigenproduktion von Netflix. Und leider nur ein weiteres glattpoliertes Stück Polit-Entertainment.
Marseille – gelbes, angestocktes Seehundsgebiß, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt. Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffkompanien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze daraus hervor.

1929 schrieb Walter Benjamin diese Zeilen. Das Marseille, das er damals sah, hörte, roch und spürte, war eine dreckige Stadt, eine heruntergekommene, eine kämpferische, eine poetische. Viele berühmte Romane spielen in Marseille, diesem Ort des Gehens und Ankommens: In Anna Seghers Transit von 1944 war die Stadt der letzte Ausweg für die vor den Nazis Fliehenden in Europa. In Jean-Claude Izzos Marseille-Trilogie der neunziger Jahre wird sie von verschiedenen Einwanderergruppen und rechtsradikalen Kräften umkämpft.

Nun ist Marseille eine Netflix-Serie, und es ist wieder eine andere Stadt, von der hier erzählt wird. 2013 wurde sie mit aller Macht zur Kulturhauptstadt aufgebürstet, ein Zaha-Hadid-Wolkenkratzer wirft seine Schatten über die alten Hafengebäude, und die lange verwahrloste Canebière ist wieder zum Einkaufsboulevard geworden. Es gibt aber auch Viertel, die als rechtsfreie Räume gelten.

Für Netflix ist der Achtteiler ein Prestigeobjekt. Marseille ist nicht nur die erste französische Eigenproduktion des Streamingdienstes, sondern überhaupt die erste in Europa. Durch sie soll gelernt werden, was das europäische Publikum sehen will; eben kein französisches House of Cards, sondern eine sehr lokal geprägte Geschichte. Dieser Strategie folgten in letzter Zeit einige Serienproduktionen und waren damit sehr erfolgreich, wie Gomorrah (Sky) oder Narcos (Netflix): lokale Geschichten mit globalen Aussagen. Darin will sich auch Marseille einreihen.

Die Episoden erfüllen viele Seh-Bedürfnisse: Es geht um den Machtkampf zwischen dem langjährigen Bürgermeister, Robert Taro (Gérard Depardieu), und seinem politischen Ziehsohn Lucas Barrès (Benoît Magimel), der sich nach 20 Jahren gegen seinen Mentor erhebt. Im Zentrum des politischen Streits steht der Bau eines Kasinos auf dem Hafengelände, den die örtliche Mafia mit allen Mitteln verhindern will.

Es stecken viele Themen in diesem klassischen Plot: die rasante Gentrifizierung Marseilles, die mafiösen Strukturen, das Problem der Sozialbausiedlungen, die von der Politik vernachlässigt wurden und nun unkontrollierbar geworden sind. In der Realität liegen die Baukräne des neuen Hafenviertels nicht weit weg vom Hochhausviertel Felix Pyat, das als eines der ärmsten der Stadt gilt. Diese Diskrepanz in Bilder zu bannen, wäre die große Chance dieser Produktion gewesen.

Aber das Unfertige, Chaotische, sich immer wieder Erneuernde von Marseille – wo ist es geblieben? Die Kamera fliegt über die Stadt, wie sie es in vielen anderen Serien eben auch tut, ob es nun Berlin, Kopenhagen oder Washington ist. Zeitraffer, Prachtbauten, heruntergekommene Wolkenkratzer. Aber für die unsichtbaren Grenzen, die durch die Stadt verlaufen, die zwischen ihren Bewohnern verlaufen, findet Marseille nur sehr abgegriffene Bilder.

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