Vor diesem Fußballtrainer kuschen die bösen Buben

  06 Mai 2016    Gelesen: 662
Vor diesem Fußballtrainer kuschen die bösen Buben
Sebastian Kneißl galt als eines der größten deutschen Fußballtalente, trainierte bei Chelsea unter Jose Mourinho. Dann wurde ihm alles zu viel. Straßengangs gaben ihm die Liebe zum Fußball zurück.
Plötzlich war da nur noch Leere. Sebastian Kneißl erinnert sich noch genau an den Moment, in dem er seine große Liebe verlor. Seine Liebe zum Fußball.

Er war damals Stürmer von Fortuna Düsseldorf, 24 Jahre jung, im besten Alter für einen Fußballspieler. An einem Spieltag der Regionalligasaison 2007/2008 hing sein Trainer Uwe Weidemann wie immer die Mannschaftsaufstellung in die Kabine. Kneißl sah, dass er nicht dazugehörte. Er war nicht frustriert. Er war nicht wütend. Er war erleichtert, froh, nicht mittendrin zu sein. Sondern nur dabei. Froh, dass er wie rund 20.000 weitere Menschen in diesem Stadion nur zuschauen würde. "Da wusste ich: Ich höre auf mit dem Fußball. Ich muss raus", sagt er heute.

Der Druck sei ihm zu viel geworden. Die Erwartungshaltung, immer Leistung bringen zu müssen, damit kam er nicht mehr klar. Damit will er auch nicht mehr klarkommen. Obwohl oder gerade weil Fußball schon immer sein Leben war. Bereits mit 15 Jahren Wechsel vom FC Bensheim zu Eintracht Frankfurt. U15-Nationalmannschaft, dann U18. Mit gerade einmal 17 Jahren holte ihn der FC Chelsea.

Training bei Startrainer Jose Mourinho. Kneißl spielte unter Horst Hrubesch und Uli Stielike für die deutschen Jugendauswahlteams, wurde Zweiter bei der U19-Europameisterschaft. Sebastian Kneißls Leben war bis hierhin ein gelebter Jungentraum, zumindest von außen betrachtet. Kneißl galt als eines der vielversprechendsten Talente des Landes und konnte mit diesem Funktionierenmüssen plötzlich nichts mehr anfangen.

Plötzlich war da wieder Freude. Sebastian Kneißl erinnert sich noch genau an den Moment, in dem er seine große Liebe zurückgewann. Seine Liebe zum Fußball.

Morgens Elitekids, abends Straßengangs

Nach dem Ende bei Fortuna Düsseldorf unterbrach er seine Spielerkarriere, arbeitete für den FC Chelsea, seinen ehemaligen Klub. Als Streetworker, auf Stundenbasis. Ein Bekannter hatte ihm den Job vermittelt. Morgens trainierte Kneißl reiche Elitekinder, abends Gangmitglieder in den schlimmsten Londoner Stadtteilen, in einem Fußballkäfig auf Beton. Bevor die wilden Jungs zu kicken begannen, mussten sie vor ihrem Trainer ihre Taschen entleeren.

Es kamen mehr als Kaugummis und Haustürschlüssel zum Vorschein: Messer, Schlagringe, Pistolen. Es gab viele Schlägereien. Doch zu Kneißl sahen alle auf. Hörten ihm zu. Staunten, als er vormachte, wie ein Flankenball volley ins Tor geschossen wird. "Als ich nach dieser für mich recht einfachen Übung in die Augen der Jugendlichen sah, da wusste ich: Trainer sein, Coach sein, das ist genau meins. Da habe ich den Fußball wieder geliebt", sagt Kneißl.

Heute ist er 33 Jahre, hat eine Tochter. Und sein Ziel erreicht: Er hat sein eigenes Unternehmen gegründet: "Your Coaches" ist eine Agentur, die Trainer an Vereine vermittelt. Und Vereine an Trainer. Für kurze oder lange Zeiträume, je nach Bedarf. Die Trainer müssen mindestens die A-Lizenz besitzen. Qualität und Kompetenz sind Kneißl wichtig.

China, Indien, Hoffenheim

Auf Wunsch können die Vereine aller Ligen und Klassen die Trainer aus Kneißls Kartei als eine Art Berater buchen, die für einige Wochen in die Vereine "hineinschauen", mit dem dortigen Trainer die Situation analysieren und Tipps geben. Eine externe, unvoreingenommene Meinung ist oft sehr wertvoll.

Gerade war Kneißl in China, auf Einladung der Regierung. Vor 200 Leuten hielt er dort einen Vortrag. Und die Mitarbeiter des chinesischen Bildungsministeriums waren von Kneißl und seinen Ansätzen so begeistert, dass sie eine Zusammenarbeit mit ihm vereinbarten. Er und sein Team sollen künftig die Trainer und Spieler der Schulmannschaften einer großen Stadt des Landes schulen.

China gilt als Fußballmarkt der Zukunft, und Kneißl ist jetzt mittendrin. "Ich freue mich sehr darauf", sagt er. Auch an einem Projekt in Indien ist er beteiligt: Dort werden rund eine Million junge Fußballspieler gesichtet, und die Besten bildet dann die TSG 1899 Hoffenheim aus. Die Vision ist, dass diese Spieler die indische Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft 2022 in Katar schießen. Kneißl vermittelt die Ausbilder.

Mentaltrainer ist Kneißl auch noch

Der einstige Chelsea-Stürmer hat viel nachgedacht. Darüber, warum es nicht für die ganz große Karriere gereicht hat. Warum er sich so viel Druck gemacht hat. Und vor allem hat er sich gefragt, was er wirklich will im Leben. Was ihn wirklich erfüllt. Was ihn wirklich glücklich macht. Kneißl hat die Antwort gefunden: "Ich möchte Menschen unterstützen, ihre Ziele zu erreichen."

Deswegen hat er sich neben "Your Coaches" noch mehr aufgebaut: Er arbeitet als Mentaltrainer. Mit Sportlern und Nichtsportlern. Ein Bereich, der im Leistungssport immer wichtiger wird. Die Nationalmannschaft arbeitet intensiv mit Prof. Dr. Hans-Dieter Hermann, und in vielen europäischen Topklubs sind die Mentaltrainer für Spieler und Trainer wichtige Ansprechpartner.

Kneißls Vision ist es, Fußballspieler in allen Alters- und Leistungsklassen mental zu unterstützen. "Mentaltraining ist ein Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Und jeder Mensch möchte eine gefestigte Persönlichkeit sein. Durch meine Erfahrungen weiß ich, wovon ich spreche. Ich bin ein Mann aus der Praxis", sagt er.

"Ich bin sehr dankbar"

Das Fernstudium zum Diplom-Sport-Mentaltrainer absolviert er gerade, danach will er wohl noch den Master draufsetzen, um Psychologie zu studieren. Er nimmt an zahlreichen Fortbildungen und Podiumsdiskussionen teil. Außerdem ist er in seinem Verein SC Baldham-Vaterstetten nahe München für die interne Trainerfortbildung zuständig. Mit 39 Mannschaften ist der Klub einer der größten Bayerns. Kneißl setzt auf neue Methoden, hat sich auf das Training der Stürmer spezialisiert und lässt diese manchmal zu ihrer Lieblingsmusik den Abschluss üben.

Er schaut zu Trainern auf, die auf Kommunikation setzen, zum Beispiel Borussia Dortmunds Thomas Tuchel. "Achtsamkeit und Dankbarkeit sind in meinem Leben zwei wesentliche Begriffe. Ich bin sehr dankbar, dass ich einen neuen Weg nach dem Fußballspielen gefunden habe", sagt Kneißl.

Der Fußball ist immer noch wesentlicher Bestandteil im Leben des Sebastian Kneißl. Und doch ist jetzt alles anders. Besser, findet Kneißl. Viel besser.

Quelle : welt.de

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