Er entdeckt Franziska, zum Glück sind die Augen noch gut. Er lässt sich auf den Stuhl neben der Geschichtsdoktorandin fallen, platziert das Mittagessen vor sich auf dem Tisch. Pellkartoffeln mit Quark für 1,80 Euro, dazu eine Cola. "Franz-Josef, wie geht es dir?", will Franziska zur Begrüßung wissen. Die beiden trennen 60 Jahre. Freunde sind sie trotzdem, eine Zeit lang saßen sie nebeneinander im Seminar. Es hat die 26-Jährige beeindruckt, dass jemand mit Anfang 80 noch ein Studium beginnt.
Für Mittnacht glich das Studium zu Anfang eher einer Flucht, einer Flucht aus der Einsamkeit. Vor sechs Jahren starb seine Frau, 40 Jahre lang waren sie verheiratet und kinderlos geblieben. Der Verlust schmerzt bis heute. "Ich hatte keinen Lebensmut mehr", erzählt er mit leiser, ernster Stimme. "Ich wusste überhaupt nicht, wohin mit mir." Er brauchte Ablenkung, dringend.
Mittnacht kaufte sich ein Puzzle mit 3000 Teilen. Geholfen hat das nicht. Er zog in eine Seniorenresidenz. Andere Menschen würden ihn schon herausreißen aus seiner Trauer, dachte er. Doch mit Gleichaltrigen kommt er nicht gut zurecht, die Gespräche über Krankheiten und die immergleiche Routine im Altenheim langweilen ihn. Er hat keine Lust auf Bingo oder Singspiele, er will stattdessen noch etwas lernen und unter jüngeren Menschen sein. Die Universität schien ihm da der richtige Ort zu sein. Also ging er los und setzte sich einfach in ein Seminar: "Ich wollte sehen, wie es heute läuft", sagt Mittnacht.
"Das Gedächtnis reicht ja noch - ich muss es probieren"
Vor mehr als 50 Jahren hat der Pensionär, der im gehobenen Dienst der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt war, schon einmal studiert: Philosophie, Theologie und Psychologie in Würzburg. "Damals wurde in Seminaren und Vorlesungen nicht diskutiert. Niemand hätte gewagt, eine Frage zu stellen oder dem Professor zu widersprechen", erzählt Mittnacht. "Heute sind lebhafte Auseinandersetzungen ja sogar erwünscht."
Als er sein zweites Studium aufnimmt, probiert er etliche Fächer aus, sogar Ingenieurswissenschaften. In Alter Geschichte schreibt er eine Prüfung mit. Das Ergebnis: sehr gut. "Da dachte ich mir: Das Gedächtnis reicht ja noch - ich muss es probieren." Doch ein Professor, mit dem er zufällig ins Gespräch kommt - "ein prächtiger Mann" -, rät ihm von Alter Geschichte ab. Denn dafür hätte Mittnacht nicht nur Griechisch und Latein können, sondern auch Persisch lernen müssen.
"Das schaffe ich wohl nicht mehr." Vielleicht wäre ja Mittelalterliche Geschichte eine Alternative, fragte er sich. So landet Franz-Josef Mittnacht als Student in der Mediävistik.
Der Pensionär hat sich mit Kommilitonin Franziska verquatscht, dabei wollte er noch in die Bibliothek, bevor die nächste Vorlesung beginnt. Seit einem Sturz vor einem knappen Jahr kann er nicht mehr so schnell. Vier Monate lang lag er im Krankenhaus. Sein Arzt erzählte ihm, er sei mehrfach auf den Hinterkopf gefallen, doch daran kann er sich nicht mehr erinnern. Zum Laufen benutzt er jetzt einen Stock. Allerdings vergisst er ihn ständig - seine Kommilitonen tragen ihm die Gehhilfe dann hinterher. "Franz-Josef, dein Stock", imitiert er sie und grinst.
In der Bibliothek gibt es zum Glück einen Aufzug. Er ist gern hier, Bücher sind seine Leidenschaft. Für das Studium hat er sich auch einen Laptop zugelegt. Damit surft er häufig im Internet. "Wikipedia ist toll, um sich einzulesen", schwärmt Mittnacht. Ihn interessiert vor allem, welche Bücher in den Quellenangaben der Artikel genannt sind. Die sucht er sich dann in der Bibliothek.
Mittnacht genießt eine Art Promi-Bonus
Mittnacht kramt in seinem Rucksack und zieht einen Zettel hervor, auf dem er alle Seminare notiert hat, die ihn interessieren. "Oh je", sagt er mit Blick auf den Stundenplan. Der Hörsaal liegt ein gutes Stück entfernt, in einem anderen Gebäude. Er wird zu spät kommen, schon wieder. Aber Sorgen macht ihm das keine.
"Die Dozenten heute sind viel netter als früher", sagt er. "Damals hätte keiner gewagt, nach Beginn der Vorlesung zu erscheinen." Mittnacht genießt eine Art Promi-Bonus: Auf dem Essener Campus ist er bekannt wie ein bunter Hund. Alle paar Meter muss er stehen bleiben, weil er in ein Gespräch verwickelt wird: "Herr Mittnacht, wann kommen Sie denn mal wieder in unser Kolloquium?" - "Franz-Josef, wie läuft es mit dem Studium?"
Auch die meisten Dozenten kennen ihn längst - und wissen, dass er anders ist als die typischen Seniorenstudenten, die sonst in ihren Seminaren sitzen. Die Uni ist für Mittnacht nicht bloß Zeitvertreib. Er meint es ernst, ist ehrgeizig, will den Abschluss unbedingt schaffen.
Ein paar Minuten zu spät öffnet er die Tür zum Vorlesungsraum. Die Professorin hat bereits begonnen. Franz-Josef Mittnacht schlüpft auf einen Platz in der letzten Reihe. Sein Blick schweift über die Reihen vor ihm. Jungs in Skaterhose mit grün gefärbten Haaren sitzen neben Mädchen mit großer Brille und Haarknödel auf dem Kopf. Doch auch ein paar ältere weißhaarige Herren sind gekommen. Typisch Geschichtsvorlesung halt.
An der Universität Duisburg-Essen gibt es den Verein "Lebenslanges Lernen", in dem die älteren Studierenden organisiert sind. Aber auch mit diesen Gleichaltrigen kann der 86-Jährige nicht viel anfangen. "Die reden mir einfach zu viel."
Er ist froh, dass die allermeisten jungen Mitstudenten ihn als einen der Ihren akzeptieren, ihn einen Freund nennen. Manche besuchen ihn sogar und machen es sich auf seinem großen Sofa bequem.
Mittnacht ist ein guter Zuhörer und ehrlicher Ratgeber - und er verfügt über eine Menge Lebenserfahrung. Das schätzen seine Freunde an ihm. Und: Er ist fast immer erreichbar. "Entweder man geht zum Psychiater oder zu Franz-Josef", hat neulich einer im Scherz gesagt.
"Mit 90 will ich meine Promotion in der Tasche haben"
Manchmal, wenn die Gedanken an seine Frau ihn wachhalten, setzt er sich ans Klavier, das er in die Seniorenresidenz mitnehmen konnte. Oder er liest, meistens Bücher auf Latein, Französisch oder Englisch. Er will sein Gehirn fithalten, sich selbst herausfordern, wie er sagt. Er will leben.
Doch für heute wünscht sich Mittnacht ein bisschen Ruhe. Die Vorlesung ist vorbei. Er steigt in die Bahn, sie bringt ihn zurück nach Hause. Er will sich etwas hinlegen. Morgen ist ja auch noch ein Tag. In solchen Situationen merkt er, dass er das Tempo der Jungen nicht immer mitgehen kann. Er akzeptiert das - aber ein bisschen stört es ihn auch.
Und noch etwas nervt ihn: Seit seinem schlimmen Sturz lassen ihn die Pflegerinnen aus dem Seniorenstift in der Essener Innenstadt nur ungern aus den Augen. Dass er jeden Tag allein mit der Straßenbahn an die Universität fährt, ist ihnen überhaupt nicht recht. "Der Herr Mittnacht ist beratungsresistent", heißt es im Haus. "Stimmt nicht", sagt er und lacht. "Ich weiß nur, was ich will."
Auch deshalb ist ihm so wichtig, sein Studium zu beenden. Er möchte beweisen, dass er es noch kann. "Mit 90 will ich meine Promotion in der Tasche haben. Auf meinem Grabstein soll stehen: Er hat bis zuletzt gelernt."
Quelle : spiegel.de
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