Für Asyl in Deutschland riskieren sie alles

  14 Oktober 2015    Gelesen: 676
Für Asyl in Deutschland riskieren sie alles
13 Jahre Unterstützung aus dem Westen - trotzdem verlassen immer mehr Afghanen ihre Heimat. In Kabul traf Matthias Gebauer ratlose Diplomaten, Schleuser und viele, die dem Tod entkommen wollen - mit einer lebensgefährlichen Flucht.
Den Begriff "Schlepper" mag Nissam nicht. "Wir bieten unseren Kunden, ich nenne sie Passagiere, eine Dienstleistung an", sagt der junge Mann. Der Deal sei simpel. "Sie wollen raus aus Afghanistan, wir bieten den Service, bis nach Deutschland".

Der 28-Jährige sitzt im Gartenrestaurant Sufi im Zentrum von Kabul, er trägt einen sorgsam gebügelten schwarzen Shalwar Kamiz, das traditionelle Gewand der Afghanen. Vor sich auf dem Tisch hat Nissam seine drei Smartphones auf dem Tisch verteilt. Fotos sollen wir nicht machen, so ganz legal sei sein Service ja schließlich nicht.
Nissam hat viel zu tun. Noch am Morgen, erzählt er, sei eine Gruppe mit 30 seiner "Passagiere" los. Zunächst per Bus reisen sie nach Iran, von dort sollen sie andere Schleppergruppen in die Türkei, dann übers Meer nach Griechenland und schließlich über die Balkanroute nach Deutschland bringen. Rund 10.000 Dollar, sagt Nissam, würden die Kunden bei einem Geldwechsler hinterlegen, pro Etappe würden er und seine Partner ihre Anteile bekommen. Alles sei bestens organisiert.

"Zufriedenen Kunden, die sicher ankommen, sind die beste Werbung", sagt der Fluchthelfer.

Ganz ruhig spricht er über die gefährliche Flucht, die derzeit bis zu 100.000 Afghanen pro Monat antreten. "Ich warne jeden meiner Kunden vor dem Risiko, das sie eingehen, erzähle ihnen vor allem vom gefährlichen Weg über das Meer", versichert er. Trotzdem würden die meisten doch zusagen: "Die Menschen hier sind verzweifelt, sie fürchten nach der Eroberung von Kunduz die Rückkehr der Taliban auch nach Kabul, deswegen entscheiden sie sich zur Flucht." Er selbst, einst Besitzer eines Reisebüros, würde auch gehen, natürlich. Doch das neue Business laufe einfach zu gut.

Sichere Route nach Deutschland?

Während das Land im Jahr nach dem Ende der Nato-Kampfmission ins Chaos abrutscht, boomt das Geschäft mit den Flüchtlingen. Bei jedem Gespräch hier wird die Flucht, das Zurücklassen der Heimat, diskutiert. Frustriert von der eigenen Regierung, verängstigt durch die Rückkehr der Taliban, desillusioniert von der Chancenlosigkeit kehren große Teile der jungen Generation dieser Tage ihrer Heimat den Rücken. Die meisten wollen nach Deutschland. Nach den Syrern kommt so mit den Afghanen ein ganz neuer Flüchtlingsstrom in Gang.

Neben Nissam nimmt im Sufi-Café jetzt ein Kunde Platz. Qais Halimi, gerade mal 22 Jahre alt, hat sich vor drei Wochen zur Flucht entschlossen. Er will die "safe route" buchen.

Eine "sichere Route" nach Deutschland, gibt es das wirklich?

Auf dem Tisch breitet Qais seine Unterlagen aus. Nissam soll ihm ein Besuchsvisum für die Türkei beschaffen, derzeitiger Schwarzmarktpreis: 6000 Dollar. Von dort, so der Plan, werden Nissams Partner den jungen Afghanen weiter nach Deutschland bringen. Dafür zahlt er noch mal 8000 Dollar in bar. Die Familie hat das Geld zusammen gekratzt.

Qais sagt, auch er kenne die Gefahren, doch er habe keine Wahl. Als Drummer in einer recht bekannten Pop-Band Afghanistans bekommt er seit Monaten anonyme Drohanrufe. Schon sein modernes Outfit, der akkurate Bürstenhaarschnitte und die gefälschten Designerklamotten - all das macht ihn zu einer Art Paradiesvogel in Kabul.

Merkel? "Mutter der Flüchtlinge"

Einer seiner Band-Kollegen sei kürzlich von Unbekannten im Auto beschossen worden. Die meisten Musiker, die er kenne, würden derzeit versuchen, ins Ausland zu flüchten.

Sein Fazit: "Besser auf der Flucht sterben als hier in Kabul."

Deutschland ist Verzweifelten wie Qais wohlbekannt, per Deutsche Welle hält er sich über die Situation der Flüchtlinge auf dem Laufenden. Er hat sich die Bilder von den Bahnhöfen eingeprägt, wo Freiwillige die Hilfesuchenden empfangen.

"Deutschland ist ein gutes Land", berichtet er über seine Pläne, "zuerst bringt man mir dort deutsch bei, dann suche ich mir eine Arbeit". Auch für die deutsche Kanzlerin hat er viel Lob parat. "Hier in Kabul nennen wir Frau Merkel die Mutter aller Flüchtlinge", sagt Qais, "sie gibt uns Hoffnung, dass auch wir es schaffen können".

Die Hoffnung kennt Brigadegeneral Sayed Omar Sabur. Der Mittfünfziger leitet die Passstelle in Afghanistan. Seit einigen Wochen herrscht in der von hohen Mauern umgebenen Behörde Ausnahmezustand, jeden Tag bilden sich in den staubigen Straßen vor dem zweigeschossigen Gebäude lange Schlangen. 7000 Pässe pro Tag gebe man hier aus, erzählt Sabur. "Die meisten Antragsteller sagen ganz offen, dass sie mit dem Pass die Flucht versuchen wollen", sagt der General. In Deutschland, so hat er gehört, bekomme man mit dem afghanischen Pass sofort Asyl.

Der Verkehr gen Iran ist in den vergangenen Wochen explodiert

Bei Sabur im Büro sitzt Habib Rahman, er ist zum vierten Mal hier. "Wenn ich meinen Pass bekomme, versuche ich zu Verwandten nach Russland zu kommen", von dort sei es nicht mehr weit nach Berlin, sagt der 28-Jährige. Seit Wochen wartet der junge Afghane aus der Taliban-Hochburg Khost im Osten des Landes nun schon auf seinen Pass. Wieder einmal hat er kein Glück. Nachdem General Sabur den Wäschekorb mit den Dokumenten durchsucht hat, muss er Rahman wieder nach Hause schicken. "Unsere Druckmaschinen laufen Tag und Nacht, aber wir kommen nicht nach", sagt Sabur.

In der deutschen Botschaft betrachtet man die wachsende Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan seit Wochen genau. Die Eroberung von Kunduz durch die Taliban, so die Einschätzung hier, wird den Ansturm auf Passstelle und Schleuser noch einmal anheizen. Mühsam versucht Botschafter Markus Protzel, die Hoffnungen der Flüchtlinge durch zahllose aufklärende Interviews bei den lokalen TV-Sendern zu bremsen. Er sagt dann, dass nur ein Teil der Afghanen in Deutschland eine Chance auf Asyl haben; dass vielen die Abschiebung oder die Verteilung in andere EU-Länder drohe.

Ob die Botschaft ankommt, das nur rund 40 Prozent der Afghanen in Deutschland tatsächlich Asyl bekommen? Das kann niemand so genau sagen.

Bei Aminullah jedenfalls machen sich die Warnungen nicht bemerkbar. Im Schneidersitz stellt der Mittvierziger am frühen Morgen im Westen Kabuls auf einem wackeligen Metalltisch Bustickets aus. "Für 700 Afghani buchen Hunderte jeden Tag ein Ticket zur iranischen Grenze", sagt der Kartenverkäufer, "die meisten wollen sich von dort aus in Richtung Deutschland durchschlagen". Um ihn drängen sich junge Männer, die noch mitwollen.

Der Verkehr gen Iran hat in den vergangenen Wochen extrem zugenommen, sagen die Busbetreiber an der Haltestelle am Rand von Kabul. Mindestens 65 Busse mit jeweils rund 80 Gästen fertigen Aminullah und seine Männer jeden Morgen ab. Seine Firma sucht schon nach neuen Bussen, die meisten sind Achtzigerjahre-Modelle aus Deutschland.

Den letzten Platz hat an diesem Morgen Isatullah aus der Umgebung von Kabul ergattert. Nur mit einem Rucksack startet er die gefährliche Route in eine neue Zukunft. "Natürlich können wir scheitern", sagt er zum Abschied, "aber wir müssen es versuchen".

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