IS-Opfer finden in Deutschland Zuflucht

  14 Oktober 2015    Gelesen: 469
IS-Opfer finden in Deutschland Zuflucht
Im Nordirak hoffen traumatisierte Opfer der Terrormiliz «Islamischer Staat» auf ein neues Leben in Deutschland. Baden-Württemberg will bis zu 1000 Frauen und Kinder aufnehmen. Niedersachsen beteiligt sich ebenfalls. Doch wie wählen die Beamten die Frauen aus?
Schreibtisch, Stuhl und Schrank, unter dem Fenster eine schwarze Liege. Eigentlich bietet das Büro des baden-württembergischen Psychologen Jan Ilhan Kizilhan im nordirakischen Dohuk keinen Raum für Emotionen. Trotzdem entfaltet sich das Grauen an diesem Morgen innerhalb von 30 Minuten: Sarah – schwarze Haare, braunes Kopftuch, schwarzer Rock – erzählt, wie sie im vergangenen Jahr von IS-Terroristen verschleppt wurde, verkauft, vergewaltigt, geschlagen. Die 20-Jährige spricht ruhig, ohne zu zögern, ohne zu weinen. Dafür knetet sie ihre Hände und lässt die Fingergelenke knacken.

Die junge Frau hofft auf ein neues Leben in Deutschland, berichtet die dpa. Sie hofft, dass das Land Baden-Württemberg sie aus Kurdistan holt, dass sie die Erinnerungen an ihre Erlebnisse hinter sich lassen kann. Bis zu 1000 traumatisierten Opfern des Islamischen Staates (IS) will die grün-rote Landesregierung Schutz bieten, sichere Unterkünfte, Sprachunterricht, Therapie. Bisher seien 436 Menschen in den Südwesten gekommen, weitere 64 nach Niedersachsen. Die Frauen kamen durch Flucht in die Freiheit – oder wurden freigekauft.

3000 Kilometer von Stuttgart entfernt – und nur rund 30 Kilometer von der IS-Front – wählen die deutschen Experten die Flüchtlinge aus. In Dohuk nahe der türkischen Grenze in der Autonomen Region Kurdistan, pulsiert das Leben: Restaurants, Döner-Läden, Gemüsehändler, Shopping Malls, vor allem japanische Autos drängen sich auf breiten Straßen. Nachts leuchtet das Riesenrad eines Vergnügungsparkes in Grün, Blau und Rot. Nur Bauruinen zeugen von den wirtschaftlichen Problemen in der Region. Früher lebten hier 400 000 Menschen, durch die Flüchtlinge sind es nun eine Million.

Der Ort, an dem sich die Zukunft von Sarah und vielen anderen Frauen entscheidet, ist eine Vierzimmerwohnung in einem Wohnblock am Rande der Stadt. Alle zwei Wochen kommen fünf oder sechs Beamte aus Stuttgart. Die Räume hat die Osnabrücker Hilfsorganisation Luftbrücke Irak angemietet. Seit Jahren kümmert sich der Verein um Kriegsopfer.

An der Eingangstür im sechsten Stock klebt das Wappen das Landes Baden-Württemberg. Sonst weist nichts daraufhin, dass hier Beamte aus Deutschland arbeiten – aus Sicherheitsgründen. «Der IS betrachtet diese Frauen als sein Eigentum», sagt der Traumatologe Kizilhan. Die Terroristen könnten das Büro angreifen und versuchen, sich ihr «Eigentum» zurückzuholen. Zu ihrem eigenen Schutz wollen die Frauen deshalb nicht ihre wahren Namen in der Presse lesen.

Die Beamten gehen nur in Begleitung des Sicherheitsdienstes aus dem Haus, bewaffnete Männer in gepanzerten Fahrzeugen schützen sie. Ihr Leben spielt sich im Hotel und im Büro ab. Der Projektleiter Michael Blume sieht wegen der politischen Lage allen Grund zur Vorsicht. Es gebe Spannungen zwischen kurdischen Gruppen. Die politische Opposition versuche, gegen Präsident Masud Barsani vorzugehen.

Wenn das Team aus Deutschland hier ist, brummt die Wohnung. Wachleute sitzen in ihren beigen Anzügen im Flur. In der Küche sortieren zwei kurdische Studentinnen die Dokumente für die Visa-Anträge der Frauen. Im Wartezimmer sitzen an einem langen Tisch Frauen mit ihren Kindern und Männern.

Im Halbstunden-Takt ruft Kizilhan die Frauen in sein Zimmer – von 9.00 Uhr morgens bis in den späten Nachmittag. Er fragt sie nach ihrem Namen, ihrem Alter, ihren Kindern, ihrer Schulzeit. Die Frauen beginnen zu erzählen. Er fragt sie nach ihrer Geschichte, nach ihren Erlebnissen. Die Opfer sprechen davon, was sie gesehen haben, wie ihre Lieben getötet wurden, wie sie von den Terroristen verschleppt wurden, wie sie manches Mal versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Einige weinen. Kizilhan reicht ihnen ein Taschentuch, wartet, fragt weiter.

Von der nordirakischen Welt draußen dringt nichts herein in die kleine baden-württembergische Welt drinnen. Kein Lärm, kein Geruch. Die Flüchtlingscamps, in denen viele der Frauen und Kinder leben, scheinen weit weg. Es sind Zeltdörfer in der staubigen Landschaft, in denen sich Hunderttausende ein Leben auf Zeit eingerichtet haben.

Die Idee für das Kontingent entstand, nachdem im August 2014 IS-Kämpfer Dörfer der religiösen Minderheit der Jesiden im Nordirak überfallen hatten. Mehr als 7000 Frauen und Mädchen seien verschleppt worden, sagt Kizilhan. Bisher seien rund 2000 geflohen oder freigekauft worden. Der IS verfolgt die Jesiden als «Ungläubige» oder «Teufelsanbeter», da sie neben Gott unter anderem an den «Engel Pfau» glauben.

Die Kurdische Regionalregierung führt Listen über die Zurückgekehrten. Kizilhan hat Frauen schon in den Flüchtlingscamps aufgesucht, andere bewerben sich um Aufnahme in das Programm. Hilfsorganisationen verteilen Anmeldeformulare.

Die Mitarbeiter der Organisation Luftbrücke Irak legen die Akten der Frauen für die Beamten aus Baden-Württemberg an – 1200 rote Schnellhefter mit 1200 Schicksalen gibt es bereits. Das jüngste vergewaltigte Mädchen ist acht Jahre alt, sagt Kizilhan. «Das Ziel ist, die schwersten Fälle zu bekommen.» Kizilhan – schwarz-graue Haare, Brille mit schwarzem Rand, Hemd und Jackett – ist promovierter Orientalist, spricht den Dialekt der Frauen, Kurmandschi, und ist wie einige aus dem Team getaufter Jeside.

Zum achten Mal ist er bereits für das Projekt im Nordirak. Der Professor von der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen im Schwarzwald spricht in einer Woche mit rund 100 Frauen. Rund 90 Prozent kämen infrage für das Programm, sagt er. Entscheidend dafür sei, dass sie in IS-Geiselhaft waren, traumatisiert seien und ihnen in Deutschland geholfen werden könne.

Kizilhan will, dass die 20-jährige Sarah, die Jesidin ist, nach Baden-Württemberg kommt. Auch ihre Cousine Schirin und deren taubstumme Schwester Hanah sollen mitkommen. Die Frauen und Kinder werden in geheimen Unterkünften leben. Bis zu 95 Millionen Euro zahlt die Landesregierung dafür in den kommenden drei Jahren.

Schirin und Hanah sitzen bei einem Mitarbeiter des baden-württembergischen Staatsministeriums. Sie müssen unterschreiben, dass sie in das Projekt aufgenommen werden wollen. Deutschland sei ganz anders, übersetzt die Dolmetscherin die Worte der Beamten. «Es ist ein Leben, wo Sie Frieden finden.» Schirin nickt. Sie kommt aus einem Land, in dem der IS über das Radio zum «Heiligen Krieg» aufruft, zum bewaffneten Kampf gegen Menschen anderen Glaubens.

Die kurdischen Behörden glauben nicht, dass sie den Frauen über Jahre helfen können, sie loben das Projekt. Doch der Direktor der Gesundheitsbehörde in Dohuk, Nezar Ismet Taib, fordert mehr Informationen darüber, wie es den Frauen in Deutschland geht. Er kenne die Details nicht, kritisiert er. «Deswegen bin ich unglücklich, weil ich nicht weiß, was passiert.» Gern würde er sich ein eigenes Bild von der Situation in Deutschland machen.

An diesem Nachmittag sorgt eine Nachricht für Aufregung: Die Iraker erteilen Genehmigungen für Charterflüge künftig erst 24 Stunden vor Abflug. In zwei Tagen soll eine Chartermaschine der Landesregierung mit 108 Frauen und Kindern in Erbil starten, in der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. «Da sitzen wir jetzt auf Nadeln», sagt ein Mitarbeiter. Der Charter kostet 80 000 Euro.

Könnte die Neuregelung schlicht Schikane sein? Immer wieder sei ihnen nahegelegt worden, für Genehmigungen zu zahlen, erzählt Blume. Korruption ist hier verbreitet. Ein Jeside habe versucht, den Frauen für eine Vermittlung in das Programm Geld abzunehmen. «Die Leute sind verzweifelt, es ist Krieg, jeder versucht, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen», sagt Projektleiter Blume.

Für den Flug nach Deutschland brauchen Schirin und Hanah vor allem die richtigen Papiere. Eine Mitarbeiterin nimmt ihnen die Fingerabdrücke ab. Ihre Pässe sind schon eingescannt. Im Büro stehen Geräte des Auswärtigen Amtes, um die Visa vorzubereiten. Statt ursprünglich nur rund eine Handvoll pro Woche könne das kleine Generalkonsulat in Erbil nun in zwei Wochen bis zu 80 Visa ausstellen, sagt eine Mitarbeiterin.

Das Team verlässt am nächsten Tag mit 103 Frauen und Kindern die Stadt Dohuk. Sie alle sind von der International Organisation of Migration (IOM) auf ansteckende Krankheiten untersucht worden. Eine Mutter mit vier Kindern kann wegen des Verdachts auf Tuberkulose vorerst nicht nach Deutschland reisen.

Die Gruppe fährt zunächst nach Lalish, dem Heiligtum der Jesiden. Der Weg dorthin führt über gewundene Straßen vorbei an Oliven- und Feigenbäumen. Bei der Ankunft an dem Jahrtausende alten Ort in den Bergen klingelt das Handy des zuständigen Beamten. Es gibt eine gute Nachricht. Die Deutsche Botschaft gibt die Genehmigung für den Charterflug durch. Die Mission läuft.

Die Frauen holen sich in Lalish den Segen eines hohen Geistlichen ab. Baba Chawish im weißen Gewand sagt: «Wir sind dem deutschen Staat dankbar, dass er Euch aufnimmt. Schadet unserem Ruf nicht.» Barfuß steht die Gruppe auf Steinplatten im Schatten von knorrigen Maulbeerbäumen. Frauen küssen ihre Männer zum Abschied, Väter ihre Kinder. Wenn sie wollen, können sie irgendwann in den Irak zurückkehren oder für immer in Deutschland bleiben – in der Hoffnung auf ein Leben in Frieden.

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