Löw selbst hat die Spekulationen über den vorläufigen EM-Kader im Vorfeld befeuert mit dem Satz, dass die eine oder andere Überraschung sinnvoll sein könne, aber wen er damit genau gemeint hat, überließ er den Auguren. Die brachten in Gestalt des "Kicker" zuletzt noch den Hoffenheimer Angreifer Mark Uth ins Gespräch, Uth werde intensiv von den DFB-Scouts beobachtet, hieß es. Wobei der 24-Jährige allerdings nur das ohnehin bestehende Überangebot in der Offensive noch anreichern würde. Bedarf auf den Angriffspositionen hat Löw eigentlich überhaupt nicht.
Die Offensive
Mit Miroslav Klose hat sich nach der WM einer der wenigen verbliebenen echten Stürmertypen zwar verabschiedet, aber der Bundestrainer kann für die EM mit Thomas Müller, Marco Reus, mit Rückkehrer Mario Gomez, mit Karim Bellarabi, Mesut Özil, Mario Götze, Julian Draxler, André Schürrle planen. Was sollte da noch ein zusätzlicher ganz neuer Offensivmann? Das könnte dann auch das Pech des Gladbachers André Hahn und des Leverkuseners Julian Brandt bedeuten, die in der Schlussphase der Saison überragend auftraten.
Eher setzt Löw auf den jungen Schalker Leroy Sané, den er schon im Vorjahr in den Kreis der Nationalspieler berief. Oder noch wahrscheinlicher auf die bewährte Arbeitsbeziehung mit Lukas Podolski, für den sein sechstes Turnier dann aber auch sein letztes sein dürfte. Der Wolfsburger Max Kruse wurde wegen seiner letztlich läppischen Verfehlungen vor den Testspielen im März wie ein Schuljunge disziplinarisch gemaßregelt. Er hat kaum noch Aussichten auf das Turnier - seine zuletzt gezeigten Leistungen sprechen auch nicht dafür.
Das Mittelfeld
Die Probleme hat Löw ohnehin woanders auf dem Feld, und hier sind personelle Eingriffe des Bundestrainers ins übliche Tableau am wahrscheinlichsten - und auch am dringendsten. Das geht bei der wichtigen Sechserposition los, auf der mit dem zurückgetretenen Philipp Lahm und dem verletzten Ilkay Gündogan zwei wirklich wichtige Spieler fehlen. Es wäre zwar ein echter Coup, wenn Löw Lahm noch einmal zum Mitmachen hätte überreden können, aber der Münchner Kapitän hat sämtliche Versuche, das Thema aufzubringen, bislang weggelächelt. So sehr Lahm auch zwei Jahre nach dem Rücktritt in Natonalmannschaftsform ist.
Da der angeschlagene Neu-Kapitän Bastian Schweinsteiger als Wackelkandidat noch freundlich umschrieben ist, müsste Löw im defensiven Mittelfeld eigentlich aktiv werden und Alternativen benennen. Sami Khedira und Toni Kroos, das wäre die Lösung der Marke Nummer sicher, aber für die beiden bräuchte es in jedem Fall ein Back-up. Die Nominierung von entweder Julian Weigl aus Dortmund oder Mahmoud Dahoud aus Mönchengladbach oder Bayerns Joshua Kimmich würde jedenfalls niemanden ernsthaft überraschen.
Die Defensive
In der Abwehr hat Löw rein zahlenmäßig genug Optionen für eine Defensive, die sich um die Stützen Manuel Neuer, Jérôme Boateng und Mats Hummels gruppieren. Der Kölner Jonas Hector darf sich in jedem Fall auf sein erstes großes Turnier freuen und eine der Planstellen in der Außenverteidigung übernehmen. Ansonsten ist von Benedikt Höwedes bis Emre Can, von Shkodran Mustafi bis Antonio Rüdiger, von Jonathan Tah bis Sebastian Rudy vieles möglich.
Der Dortmunder Marcel Schmelzer, vor vier Jahren bei der EM dabei, hat vielleicht die beste Saison seiner Karriere gespielt, er hätte sich zumindest die vorläufige Nominierung verdient. Aber Löw hat bisher nie ernsthaft auf den BVB-Profi gebaut, von daher könnte er auch diesmal wie schon 2014 zur WM wieder leer ausgehen.
Wenn es am 12. Juni gegen die Ukraine zum ersten EM-Spiel kommt, dann wird in jedem Fall auf dem Platz eine Mannschaft stehen, deren Gerüst sich aus den Weltmeistern von 2014 zusammensetzt. Acht, neun, vielleicht sogar zehn Spieler aus dem WM-Aufgebot werden die Startelf bilden. Das liegt weniger an der fehlenden Experimentierfreude des Bundestrainers. Sondern eher daran, dass sich seit dem Finale von Rio nur wenige neue Spieler wirklich und nachhaltig für die Nationalmannschaft aufgedrängt haben.
Auf eine Weltmeistermannschaft zu setzen, das bringt den Trumpf der Erfahrung, der Turnierhärte mit sich. Aber auch das Risiko, ein Team aufzubieten, das sein Hauptziel schon erreicht hat. Löw wird das Risiko in Frankreich eingehen, es bleibt ihm wahrscheinlich auch keine große Wahl.
Quelle : spiegel.de
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