“Manchmal haben wir Angst vor uns selbst“

  20 Mai 2016    Gelesen: 574
“Manchmal haben wir Angst vor uns selbst“
Das Verhältnis des Westens zu Russland ist zerrüttet. Doch wie brenzlig ist die Lage wirklich? Andrej Kortunow von der Denkfabrik "Russian International Affairs Council" warnt im Gespräch mit n-tv.de: "Der Mangel an Vorstellungskraft macht die Lage brandgefährlich."
n-tv.de: Wie schlimm steht es um das deutsch-russische Verhältnis?

Andrej Kortunow: Russland verliert Deutschland - so weit würde ich gehen. Für Jahrzehnte hielten wir die Freundschaft mit Deutschland für selbstverständlich. "Deutschland wird uns nie im Stich lassen", dachten wir. Wegen der Geschichte, wegen des Zweiten Weltkriegs, wegen der Wiedervereinigung. Als Wladimir Putin, der fließend deutsch spricht, an die Macht kam, entstand zudem der Eindruck: Er kennt Deutschland und wird dafür sorgen, dass es keine Probleme geben wird. Deutsche Autos und Maschinen, deutsche Arbeitskräfte genossen einen guten Ruf. Doch dann haben wir Russen den Augenblick verpasst, als sich Deutschland mehr um die Einheit Europas kümmerte als um die Beziehungen zu Moskau.

Sie sehen die Schuld vor allem auf deutscher Seite?

Deutschland hat sich verändert, es entwickelte andere Prioritäten und bewegte sich in eine andere Richtung. Es stieg zu einer großen europäischen Macht auf, Russland spielte plötzlich nicht mehr so eine bedeutende Rolle und musste sich anstrengen, um seine Anliegen vortragen zu können. Aber beide Seiten tragen die Verantwortung dafür, dass sie nicht tiefere Bindungen haben. Von der Ukraine gar nicht zu sprechen. Sie war dann natürlich der Katalysator für die russisch-deutschen Schwierigkeiten.

Woran machen Sie die schlechten Beziehungen fest?

Ein Beispiel: Die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen schienen vor zwei, drei Jahren noch großartig. Aber wenn man sich die Struktur dieser Beziehungen ansieht, stellt man fest, dass dies vor allem große deutsche Firmen - etwa Autounternehmen - waren, die spezielle Deals mit Russland ausgehandelt haben. Wir haben es nie geschafft, eine Zusammenarbeit mit kleineren und mittleren Unternehmen aufzubauen. In Italien gibt es Tausende Firmen, die nach wie vor erfolgreich in Russland tätig sind und in der gegenwärtigen Krise sind die Beziehungen zu Italien nicht so schlecht wie die zu Deutschland.

Nicht nur die Beziehungen sind schlecht, auch das Bild vom anderen Land. Laut einer Umfrage der Körber-Stiftung hat rund die Hälfte der Deutschen Angst vor Russland hat. Warum?

Manchmal haben wir Angst vor uns selbst. Sicher hat das zudem mit dem Charakter der Deutschen zu tun, sie haben gerne verlässliche Partner, sie mögen keine Überraschungen. Vielleicht liegt es auch an den Medien, die den Russen finstere Intentionen unterstellen, etwa dass sie sich die baltischen Staaten einverleiben wollen oder einen Krieg mit der Nato planen.

Ist das so abwegig? Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew vor einem Abgleiten in den Kalten Krieg gewarnt.

In gewisser Weise ist die Lage gefährlicher als im Kalten Krieg. Damals gab es zwei verschiedene Systeme und Ideologien. Beide Seiten hatten ein Gefühl der Verantwortung, wir wussten, was wir voneinander zu erwarten hatten. Es gab Rüstungskontrollverträge und eine Infrastruktur, die die Beziehungen mehr oder weniger stabil gehalten haben. Diese Infrastruktur ist zerstört. Hinzu kommt, dass die Menschen vor 50 Jahren wirklich Angst vor einem weiteren Krieg hatten. Krieg war etwas Reales, nicht ein Hollywood-Blockbuster. Jetzt nehmen die Menschen diese Gefahren nicht so ernst, weil sie denken: "Das ist doch unmöglich. Wir werden niemals einen Nuklearkrieg anfangen!" Solche Dinge scheinen im 21. Jahrhundert nicht zu passieren. Dieser Mangel an Vorstellungskraft macht die Lage noch gefährlicher.

Welche konkreten Gefahren sehen Sie?

Es kann einen Unfall geben, beiden Seiten können technische oder menschliche Fehler unterlaufen. Ein US-Kriegsschiff kann ein russisches Flugzeug vom Himmel holen. Als Folge können die Russen zurückschießen und das US-Kriegsschiff versenken. Das führt natürlich zu einer Eskalation. Werden die USA dann eine Flotte Kriegsschiffe in die Ostsee entsenden? Werden die Russen versuchen, ihre taktischen Nuklearwaffen anwenden? Es kann auch an der türkischen Grenze zu einer Eskalation kommen, wenn es noch einen Unfall wie im Dezember gibt, als die Türkei einen russischen Kampfjet abschoss, und Russland sich zu einem Vergeltungsschlag entschließt. Dann könnte die Türkei als ein Mitgliedsland an die Nato appellieren und einen Luftschlag gegen Russland fordern. Das ist zwar nicht so wahrscheinlich, kann aber trotzdem vorkommen. Und das sind nur die militärischen Gefahren.

Welche Gefahren gibt es denn noch?

Bei der gegenseitigen Konfrontation können wir die gemeinsamen Bedrohungen aus den Augen verlieren. Wenn jede Seite der anderen misstraut, ist es unwahrscheinlich, dass über die gemeinsame Terrorgefahr geredet wird. Vielmehr heißt es dann: "Warum sollten wir den Amerikanern unsere Informationen zur Verfügung stellen? Sie werden diese nur gegen uns verwenden." Die Folgen einer solchen Politik sind verheerend: Die Kräfte, die sowohl Russland als auch den Westen bedrohen, werden sich dadurch besser formieren, mehr Menschen rekrutieren, bessere Waffen beschaffen können – und letztlich Terrorakte gegen uns begehen.

Was ist Ihrer Ansicht nötig?

Zunächst sollten wir versuchen, zu deeskalieren. Wir haben eine Vereinbarung mit den Amerikanern, um Unfälle in der Luft zu vermeiden. Vielleicht bräuchten wir solch eine Vereinbarung auch mit der Nato. Dann sollten wir miteinander sehr offen diskutieren, unsere Karten auf den Tisch legen. Eines der Probleme ist, dass wir keine Klarheit haben und die Dinge meist ganz anders interpretieren. In den russisch-europäischen Beziehungen herrschte immer viel Scheinheiligkeit. Wir brauchen zusätzliche Konsultationen und Dialog.

Sind die jetzigen Probleme eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion? Immerhin bezeichnete Putin diesen als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Für den Zusammenbruch der Sowjetunion gibt es verschiedene Erklärungsmuster im Osten und Westen. Im Westen heißt es: "Ihr habt verloren. Damit haben wir das Recht, unsere Institutionen und unsere Praktiken auszudehnen und euch unsere Prinzipen und Institution überzuhelfen. Ihr dagegen müsst euch erst das Recht verdienen, Mitglied unseres Clubs zu werden." Moskau dagegen beharrt auf dem Prinzip der Gleichheit und sagt: "Das ist so nicht der Fall. Wir haben unser Imperium aus eigenem Willen aufgelöst, wir haben nicht verloren. Ihr seid nicht in der Position, uns zu sagen, was wir machen sollen. Russland wird europäischer und Europa muss russischer werden."

Was ja auch einige rechtspopulistische Parteien in Europa befürworten. Wie erklären Sie sich die Anziehungskraft, die Russland bei Ihnen genießt?

Russland ist beliebt, nicht weil es so großartig ist, sondern weil die nationalen Parteien nicht zufrieden sind mit dem, was in Europa geschieht. Russland bietet eine Art von Alternative, wenn auch keine ideale. Es versucht, sich als Wächter der wahren abendländischen Prinzipien und Traditionen darzustellen, als letzte Bastion der europäisch-christlichen Zivilisation gegen den Prozess der Globalisierung und Migration. Und es gibt Leute, die wirklich glauben, dass das der Fall sei.

Tags:


Newsticker