Was war geschehen? Die Eskalation begann an jenem Samstag mit einer verbalen Auseinandersetzung zwischen mehreren Libanesen. Sie mündete in eine Schlägerei, und schließlich wurden Messer gezückt. Ein Beteiligter wurde schwer verletzt.
Wenige Stunden später rächte sich ein Onkel: Er lockte einen Cousin des Opfers auf die Straße. Dann trafen den 21-Jährigen sechs Kugeln in Oberkörper und Beine. Der Mann befindet sich noch im Krankenhaus. Drei mutmaßliche Täter wurden verhaftet. Die Mordkommission "Turm" der Essener Polizei ermittelt.
Rania Issa und ihre Freundinnen, allesamt aus der arabischen Gemeinde, denken oft an den jungen Mann. "Was wäre, wenn das eigene Kind bei einer Schießerei wäre? Was wäre, wenn sich unser eigenes Kind verletzt hätte", fragt die 31-jährige Mutter von drei Kindern.
Issa ist mit fliederfarbenem Kopftuch und dezentem Make-up ins Nordviertel der Stadt Essen gekommen. Gemeinsam mit anderen Frauen steht sie an einer Bank vor einem Kinderspielplatz. Hier treffen sie sich regelmäßig.
"Stopp, das reicht!"
Zahra Kharroubi hat ein dunkelblaues Kopftuch mit weißen Herzchen umgelegt. "Wir möchten, dass die Gewalt aufhört. Wir möchten diese Angst nicht mehr haben. Wir sind die zweite Generation und hatten diese Angst. Die dritte Generation sind unsere Kinder, und die möchten wir beschützen", sagt die 38-Jährige.
Ihre Freundin Lina Khodr, 29, trägt das Haar offen. Die zweifache Mutter erzählt: "Als das mit der Schießerei war, haben wir gesagt: Stopp, das reicht!"
Kharroubi und Khodr leiten seit einiger Zeit libanesisch-arabische Frauengruppen in mehreren Stadtteilen, die sich wöchentlich treffen, oft auch mit einer türkischstämmigen Kontaktbeamtin der Polizei. Die beiden wollen ein Zeichen setzen, auch damit nicht wie so oft alle Libanesen unter Generalverdacht gestellt werden.
Jetzt haben die beiden Frauen in einem offenen Brief zur Abkehr von der Gewalt aufgerufen. 13 weitere Frauen haben die Resolution unterzeichnet.
"Wir distanzieren uns aufs Äußerste von der Tat, wir verurteilen sie, sie ist abgrundtief verachtenswert", steht in dem Schreiben. Man wolle die Hoffnung nicht aufgeben, dass solche Konflikte nicht mehr passieren.
"Unseren Teil der Verantwortung daran sehen wir in der Erziehung unserer Kinder", schreiben die Mütter. Sie wollen ihren Kindern vermitteln, "dass Sicherheit nur durch die Anerkennung rechtsstaatlicher Strukturen bestehen kann. Wir wollen und werden unseren Kindern nahebringen, welch hohe Güter Freiheit, Demokratie und Gleichberechtigung sind."
Frauen haben großen Einfluss auf die Familien
Die Polizei erlebt solche Gewaltausbrüche immer wieder. In Essen, der größten Stadt des Ruhrgebiets, leben etwa 6000 Libanesen. Es ist die bundesweit zweitgrößte Community nach Berlin. Einige Familienclans sind berüchtigt für ihre kriminellen Machenschaften und ihre Brutalität.
Das Pistolenattentat vom 9. April an der Ecke Friedrich-Ebert-Straße/Turmstraße ist besonders spektakulär, weil es in aller Öffentlichkeit verübt wurde. Sonst versuchen die Clans Streitigkeiten, zwar nicht weniger blutig, aber doch ohne großes Aufsehen auszutragen, wie die Polizei weiß.
Bei einem Treffen im April überreichten die Frauen Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) Schreiben, das man auf der Internetseite der Stadt abrufen kann. "Der Brief ist ein wichtiges Signal. Frauen sind oft der einzige Zugang zur kurdisch-libanesischen Community. Darauf sind wir aber angewiesen", sagt Kufen der "Welt" und betont, dass sich die meisten der Libanesen an die Gesetze hielten.
Bei der Essener Polizei wird der Brief als "wichtiger Denkanstoß" gewertet. Polizeisprecher Ulrich Faßbender sagt: "Die Männer treten zwar öffentlich sehr patriarchalisch auf, aber wenn die Haustür zu ist, haben in vielen Familien die Frauen das Sagen. Sie haben großen Einfluss auf die Familien, auch wenn es von außen anders aussieht."
Beunruhigende Verachtung gegenüber der Polizei
Blutige Auseinandersetzungen in Essen, angefacht von kriminellen Familienclans, sorgen seit Jahren für negative Schlagzeilen. Faßbender bringt das Problem auf den Punkt: "Die Grundproblematik ist, dass man in den Herkunftsländern unser Rechtssystem nicht kennt und dann hier eine Paralleljustiz betreibt. Solche Gewalttaten geschehen in Wellenbewegungen. Manchmal ist monatelang Ruhe, und dann passiert wieder etwas."
Besonders beunruhigt die Sicherheitskräfte, dass die Verachtung gegenüber der Polizei auf die zweite und dritte Generation übergreift. Die Beamten beklagen schon seit Jahren die Respektlosigkeit libanesischer Jugendlicher.
In der libanesischen Community gibt es eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Schulversagern, Arbeitslosen und Beziehern sozialer Leistungen. Als eine wesentliche Ursache für die sozialen Probleme wird immer wieder darauf verwiesen, dass etwa 25 Prozent der Libanesen in der Ruhrgebietsstadt nur eine Duldung besitzen, manche sogar seit über 30 Jahren.
Eigentlich müssten die Betroffenen Deutschland verlassen, aber ihre Ausreise ist wegen ungeklärter Identität oder internationaler Abkommen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. So werden sie hier geduldet.
Kaum Chancen auf einen Job
Straffällige müssen also nicht fürchten, abgeschoben zu werden. Für die Libanesen, die sich nichts zuschulden kommen lassen und sich integrieren wollen, bedeutet ein Leben in Duldung eine immense Belastung.
Alle drei Monate müssen sie ihr Aufenthaltsdokument amtlich verlängern lassen, sonst fallen sie in die Illegalität und verlieren Ansprüche auf Leistungen für Unterkunft und Ernährung. "Die Wege zu den Behörden machen einen kaputt. Und man weißt ja nie, wann man abgeschoben wird", sagt dazu Gruppenleiterin Kharroubi.
Menschen mit Duldungsstatus müssen mit Einschränkungen leben: Sie könnten keine Verträge abschließen, keinen Führerschein machen, keinen Urlaub buchen, sagt die Mutter.
Geduldete hätten ohnehin wenige Chancen auf eine Ausbildung oder einen Job, weil sich kaum ein Arbeitgeber auf den unsicheren Aufenthaltsstatus einlassen wolle. Rania Issa: "Wenn die Jugendlichen wirklich etwas in der Hand hätten und arbeiten könnten, wenn sie etwas zu tun hätten, vielleicht würde diese Gewalt nicht stattfinden."
Gleich nebenan, in Gelsenkirchen zum Beispiel ist es leichter, einen mehrere Jahre gültigen Aufenthaltstitel oder gar einen deutschen Pass zu bekommen, vor allem wenn man schon lange Zeit hier lebt oder hier geboren ist, gute Sprachkenntnisse besitzt und sich straffrei verhält.
Essens Oberbürgermeister Kufen ist das bewusst, deshalb will er etwas ändern: "Viele reißen sich täglich ein Bein aus und erziehen ihre Kinder unter schwierigen Bedingungen, ohne abzurutschen. Das will ich stärker anerkennen." Die Stadt habe einen Ermessensspielraum bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln. "Integration ist ganz eng verbunden mit einer Bleibeperspektive", sagt Kufen.
Polizei fürchtet Vergeltung
Inzwischen hatte eine Art Kommission mit dem Sozialdezernenten, Integrationsdezernenten und Ordnungsdezernenten damit begonnen, Einzelfälle von geduldeten Libanesen zu prüfen. "Diejenigen, die sich hier anstrengen, die polizeilich nicht auffällig geworden sind, und denen der Nachweis der Identität fehlt, müssen eine Integrations- und Bleibeperspektive bekommen", begründet der OB die Initiative.
Der Zustand des angeschossenen 21-jährigen ist nach wie vor kritisch. Er ist dem Vernehmen nach noch nicht "über dem Berg". Da liegt es nahe, in der Gewaltspirale auch für diesen Fall Vergeltung durch Verwandte zu fürchten.
"Die Polizei hat bei bestimmten einflussreichen Personen intensive Gefährderansprachen durchgeführt und deutlich gemacht, dass jetzt Polizei und Justiz zuständig sind und keine Selbstjustiz geduldet wird", sagt Polizeisprecher Faßbender. Vorsichtig optimistisch fügt er hinzu: "Bisher ist es zum Glück ruhig geblieben."
Quelle : Welt.de
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