“Unser Waffenbruder hat uns von hinten erdolcht“

  03 Juni 2016    Gelesen: 661
“Unser Waffenbruder hat uns von hinten erdolcht“
In der türkischen Presse hagelt es Kritik an der Armenien-Resolution des Bundestags. Von Merkel mit Hitlerbart über Vorwürfe gegen Özdemir bis zur Forderung, Flüchtlinge nach Deutschland zu schicken.
Merkel mit Hitlerbart, Beleidungen des Grünen-Chefs Cem Özdemir und Lob für die CDU-Abgeordnete Bettina Kudla – so präsentieren sich viele türkische Tageszeitungen am Tag nach der Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern.

"Unser Waffenbruder hat uns von hinten erdolcht", titelt die größte regierungsnahe Zeitung "Sabah". Die im Ersten Weltkrieg begonnene "Schicksalsgemeinschaft" sei nun beendet. "Die Türkei wird das nicht vergessen", heißt es im AKP-nahen "Yeni Safak", während die Zeitung "Akşam" auf Deutsch und in Großbuchstaben mit dem Wort "Dummkopf" titelt. Das Boulevardblatt "Günes", eines der schrillsten Organe der Regierungspresse, wartet in Anspielung auf das Flüchtlingsabkommen mit der Schlagzeile auf: "Öffnet die Tore!". Die Türkei werde eine "sehr harte Antwort" finden. "Auf dem Tisch" seien verschiedene Optionen, einschließlich der Annullierung des Flüchtlingsabkommens.

Die Zeitung "Takvim", ebenfalls ein um laute Töne selten verlegenes regierungsnahes Blatt, deren Reporter Mevlüt Yüksel mit seinem Auftritt vor der ZDF-Zentrale in Mainz von sich reden gemacht hatte, fokussiert auf Cem Özdemir. Das Blatt titelt mit einem Wortspiel, das sowohl "Made in Germany" als auch "Deutscher Idiot" bedeuten kann. Im Titelbild wird der Grünen-Vorsitzende im Moment der Stimmabgabe hervorgehoben – ein Foto, das sich in kleinerer Form auch andernorts findet.

Verschwörungstheorien und Hitlerbärte

Gleich mehrere Blätter greifen Hitler-Vergleichen. Das der Regierungspartei AKP nahestehende Blatt "Star" zeigt in einer fast ganzseitigen Fotomontage das Gesicht der Kanzlerin mit Hitlerbart. "Alles für die PKK", lautet die Schlagzeile in Anspielung auf die von der Regierung in Ankara als terroristisch eingestuften Kurden-Organisation. Viele Kommentatoren der AKP-nahen Presse üben sich in Verschwörungstheorien: Die Völkermord-Resolution, der Kampf der PKK, Proteste in der Türkei – in ihrer Darstellung sind das Versuche, um den Aufstieg der Türkei zu einer Großmacht zu sabotieren.

Nicht so großflächig, aber ebenfalls mit Hitlerbart und Hakenkreuzfahne, ist die Kanzlerin bei "Sözcü" abgebildet, einer auflagenstarken, säkular-nationalistischen Zeitung, die in entschiedener Gegnerschaft zur AKP steht: "Die Enkel Hitlers beschuldigen die Türkei des Völkermords", steht auf der Titelseite. Und darunter auf Deutsch: "Schämen Sie sich!"

So sieht es auch die andere große, nicht von der Regierung kontrollierte Zeitung, die "Hürriyet": "Schande über euch", lautet die Schlagzeile. Seit der Parlamentswahl bemühen sich die "Hürriyet" und die Fernsehsender der Dogan-Mediengruppe, sich mit der Regierung zu arrangieren. Doch diese Titelzeile dürfte die "Hürriyet" nicht aus Einschüchterung getextet haben, sondern aus Überzeugung – schließlich eint die reflexhafte Abwehr des Völkermords weite Teile des politischen Spektrums. Immerhin bemühen sich die Kommentatoren um vergleichsweise moderate Töne. Die "Posta", der Boulevardableger der "Hürriyet", macht mit der CDU-Abgeordneten Bettina Kudla auf, wie sie ihre Hand zur einzigen Gegenstimme hebt.

Nur linken Zeitungen ziehen nicht mit

Einzig die tendenziell linken Zeitungen scheren aus. Die "Cumhuriyet", deren Mitarbeiter jüngst in mehreren Verfahren – in einem wegen Geheimnisverrats, in einem anderen wegen "Verletzung religiöser Werte" – zu Haftstrafen verurteilt wurden, hatte im vorigen Jahr, zum 100. Jahrestag des Völkermords, auf Armenisch "Nie wieder" getitelt und damit einen Teil ihrer kemalistischen Stammleserschaft verprellt. "Die Einsamkeit um 1915", titelt sie nun und schreibt in der Unterzeile, dass die AKP-Regierung eine weitere diplomatische Schlacht verloren habe.

Eine ähnliche zurückhaltende Berichterstattung findet sich in linksliberalen "Taraf", der prokurdischen "Özgür Politika" und den linken Zeitungen "Evrensel" und "Birgün". Immerhin dokumentiert die "Birgün", ebenso wie die "Cumhuriyet", den Wortlaut der Resolution. In der AKP-Presse findet sich das nicht, ebenso wie die betont differenzierte Reden aller Fraktionen nicht thematisiert werden.

In den Kommentarspalten der oppositionellen Zeitungen ist das Thema hingegen kaum präsent, was sich vermutlich in den kommenden Tagen ändern dürfte. Allerdings ist der Nutzen solcher Resolutionen aus dem Ausland auch innerhalb jener Kreise umstritten, die die Auseinandersetzung mit dem Völkermord nicht reflexhaft abwehren. Auch innerhalb der armenisch-türkischen Wochenzeitung "Agos". "Für den Ministerpräsidenten üblich, für den Bundestag beschämend", titelt sie in Anspielung auf eine Aussage des neuen Regierungschefs Binali Yildirim, der die Vorgänge von 1915 als im Krieg "üblich" bezeichnet hatte.

Ein wenig um Zurückhaltung bemühen sich sonst nur die englischsprachigen Ausgaben der "Hürriyet" und der AKP-nahen "Sabah". Diese wenden sich an eine ganz andere Leserschaft.

Quelle : welt.de

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