Zehn Jahre Aldi in der Schweiz
Der Preis ist gar nicht so heiss
Zur Zeit der beginnenden «Aldisierung» des Schweizer Detailhandels schien es noch so, als ob Preise und Billigangebote zum beherrschenden Marketingthema werden würden. In Antizipation einer härteren Konkurrenz am Heimmarkt hatte Migros schon in den 1990er Jahren die Billig-Linie M-Budget lanciert, auf die der Mitbewerber Coop ab 2005 etwas à contrecœur die Prix-Garantie-Linie folgen liess, und 2007 übernahm Migros sodann den Schweizer Discounter Denner. Mit diesen Massnahmen schienen sich die Grossverteiler für einen Preiskampf oder gar einen Preiskrieg mit den deutschen Konkurrenten zu wappnen.
Heute weiss man, dass dieser Wettbewerb, bei dem die Schweizer Retailer mit Sicherheit den Kürzeren gezogen hätten, nie stattgefunden hat. Es gab wohl Phasen, vor allem in den Jahren 2010 und 2011, in denen die Detaillisten beinahe im Wochentakt Verbilligungsrunden ankündigten und die Preise tatsächlich zu purzeln schienen; Ursache dafür war jedoch die Frankenstärke, nicht die Konkurrenz durch die Discounter. Der Druck war auch nicht nachhaltig. Wie die volkswirtschaftlichen Statistiken zeigen, sind die Lebensmittelpreise in den vergangenen zehn Jahren, sieht man von Zwischenphasen ab, stabil geblieben oder allenfalls leicht gestiegen.
Dass ein Preiskampf auf Biegen und Brechen ausblieb, war unter anderem darauf zurückzuführen, dass es den hiesigen Detailhändlern gelang, die Aufmerksamkeit der Kunden auf andere als nur preisliche Aspekte des Warenangebots zu lenken. Die Qualität wurde in den Vordergrund gerückt. Mit Artikeln in den Bereichen Bio und Fair Trade – Labels mit «ideellen Zusatznutzen» –, mit Frische-, Convenience- und Premium-Produkten und nicht zuletzt dank einem Vollsortiment, welches das schmale Angebot der Discounter bei weitem überragte, verfügten die Grossverteiler über Vorzüge, denen die Billigkonkurrenz zumindest in den ersten Jahren nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte.
Mit ihrer auf Preise fokussierten Strategie vermochten die Discounter am Schweizer Markt wohl Fuss zu fassen; für einen durchschlagenden Erfolg reichte es aber nicht. Laut dem Marktforschungsinstitut GfK generierten Aldi und Lidl 2014 zusammen einen Umsatz von rund 2,6 Milliarden Franken, was einem Marktanteil von weniger als 3 Prozent entspricht. Wie sich zudem zeigt, hat die Expansion, die in den ersten Jahren noch rasant vorangegangen war, in jüngerer Zeit an Dynamik eingebüsst. Für die eingesessenen Detailhändler haben die Neuankömmlinge ihr Bedrohungspotenzial längst verloren.
Die Discounter haben sich allerdings angepasst. Sie haben von den Einheimischen gelernt und in den letzten Jahren ihr Sortiment in Sachen Frische, Swissness und Nachhaltigkeit ausgebaut und begonnen, das entsprechende Image auch mit System zu pflegen. Bei Lidl beispielsweise sticht das neue Filialkonzept ins Auge, mit dem man zwar noch nicht die Edelausstattung moderner Coop- und Migros-Läden erreicht, das aber gleichwohl kaum mehr mit den kargen Einrichtungen früherer Hard-Discount-Tage zu vergleichen ist. Bemerkenswert sind bei Lidl überdies die Brotausback-Stationen in den Filialen – eine Neuerung, die auch Aldi adaptiert – oder der Ausbau der Weinkompetenz mit einem Sortiment, das selbst teurere Tropfen umfasst. Die Discounter haben sich auch keineswegs als Lohndrücker erwiesen, wie man ihnen anfänglich unterstellt hatte. Im Vorfeld der Abstimmungen über die 1:12- und die Mindestlohn-Initiativen besserten sowohl Aldi wie Lidl die Minimalsaläre auf, die sie ihren Angestellten zahlen.
In der Retrospektive kann man feststellen, dass es nicht Migros und Coop waren, die sich an die Billig-Anbieter angepasst haben, sondern umgekehrt die Discounter, die eine sukzessive Verschweizerung erfahren haben. Mit dem hiesigen hohen Preisgefüge können sie ganz gut leben. Vom Attribut «hard» ist nicht mehr viel zu spüren.
Die Hochpreisinsel lebt
Damit allerdings hat sich auch eine Hoffnung zerschlagen, die mit dem Marktauftritt der Discounter ursprünglich verbunden gewesen war. Aldi und Lidl sollten durch den von ihnen erzeugten Preisdruck das erreichen, was zuvor politische Massnahmen stets verhindert hatten: Die Hochpreisinsel Schweiz sollte zum Verschwinden gebracht werden. Diese Voraussage hat sich als ebenso falsch erwiesen wie jene der «Aldisierung» des gesamten Handels. Die Abschottung des Lebensmittelmarkts ist nach wie vor eine irritierende Realität, der sich sowohl Grossverteiler wie Discounter beugen müssen. Beide haben insofern gleich lange Spiesse, als sie einen Grossteil ihrer Frischprodukte bei heimischen Herstellern einkaufen müssen, da eine freie und unbeschränkte Einfuhr von Lebensmitteln aus agrarprotektionistischen Gründen nicht möglich ist. Dazu kommt eine Fülle von Auflagen bezüglich Verpackungsbeschriftungen, die dazu führt, dass Lebensmittel nicht aus dem Ausland importiert werden können, ohne dass man sie zuerst umpackt oder neu beschriftet. Das verteuert die Produkte nicht nur, es erschwert auch Parallelimporte bei der Beschaffung, welche die Detailhändler tätigen könnten, um vom starken Franken zu profitieren und auch den Endabnehmern Vorteile zu verschaffen.
Die Konsumenten haben inzwischen ihre eigene Antwort auf die abgeschottete Hochpreisinsel gefunden. Sie betätigen sich als Einkaufstouristen und betreiben gewissermassen ihren privaten Parallelimport-Kanal. Der Franken-Schock vom vergangenen Januar hat die Wettbewerbsfähigkeit des Schweizer Detailhandels gegenüber den (grenznahen) ausländischen Konkurrenten beeinträchtigt, gleichzeitig aber auch die Kaufkraft der Schweizer Konsumenten im Ausland gestärkt. Diese Entwicklung bereitet den heimischen Grossverteilern sehr viel mehr Kopfzerbrechen als die Discounter. Je nach Schätzung dürften die Konsumenten 2015 im grenznahen Ausland private Einkäufe von bis zu 11 Milliarden Franken tätigen, ein Vierfaches des Umsatzes von Aldi und Lidl.
Gleich lange Spiesse für alle
Auf die Herausforderung des Discounts haben die hiesigen Grossverteiler mit dem Ausbau des qualitativen Angebots reagiert. Ihre Antwort auf den Einkaufstourismus scheint zu sein, dass man die Konsumenten zu Einkäufen am Wohnort bewegen sollte. «Wir geben alles für regionale Produkte», lautet gegenwärtig ein Werbespruch von Migros; «Milch vom Hof, von dem auch unser Büsi stammt», war unlängst ein Slogan von Coop. Mit der Belebung der lokalen Einkäufe wird die Hochpreisinsel indessen nicht zum Verschwinden gebracht, im Gegenteil, sie dürfte dadurch sogar noch zementiert werden. Auch der Einkaufstourismus wird auf diese Weise schwerlich zu stoppen sein. Damit «die Preise purzeln», müssten die Detailhändler die gleichen Möglichkeiten haben, im Ausland einzukaufen, wie die Konsumenten, die für ihr Wochenend-Shopping die Grenze überqueren und Waren ungehindert einführen können. Dazu wäre eine radikale Redimensionierung der Regulierung nötig. Und statt das Cassis-de-Dijon-Prinzip abzuschaffen, müssten die zahlreichen Ausnahmen, die es durchlöchern, eliminiert werden. Der Weg zur Überwindung der Hochpreisinsel führt über die Politik, nicht über die Discounter.