Historische Momente sind selten vorab zu erkennen, denn man weiß halt nicht, wie Geschichte sich wenden und ausgehen wird. Manchmal aber eben doch. Manchmal wissen wir, dass etwas ansteht, wonach unsere Welt eine andere sein könnte.
Wenn Großbritannien klug ist, bleibt es Mitglied der EU, weil es einsieht, dass es um die Zukunft des Westens geht. Es geht um die Konkurrenzfähigkeit Europas in Zeiten des Wandels und im Wettstreit der Weltmächte. Es geht um nicht weniger als die Zukunft des Projekts Frieden, das einstmals verfeindete Staaten 1946 im zerstörten Kontinent begannen (Churchill: "Let Europe arise!") und welches Westeuropa sieben Jahrzehnte lang einte.
Die Worte werden in diesen Tagen wuchtig, die EU-Gegner vergleichen Brüssel mit Hitler und lügen gefährliche Zahlen herbei, während Pathos in die Texte der EU-Befürworter fließt; denn es geht um Großes und Grundsätzliches. Großbritannien ist eine Brücke zwischen Europa und den USA. Steigt diesseits des Atlantiks Großbritannien aus der EU aus und wird auf der anderen Seite Donald Trump Präsident, werden scheinbar ewige Bündnisse wackeln, und ein geschwächtes Europa kann einsam werden, hilflos inmitten von Weltkrisen.
Wenn die Rechtspopulisten stärker werden, weil ausgerechnet in diesen Monaten ihres Aufstiegs Europa schwächelt und schrumpft: Was bleibt von der Idee des toleranten und fortschrittlichen Miteinander, das den Westen ausmacht? Wenn Großbritannien nun also klug ist, sieht es ein, dass es allein keine Weltmacht ist, dass es am 23. Juni mit einem Ja zum Brexit viel verlieren und außer einem Moment des Stolzes nichts gewinnen kann.
Kommt es aber doch zum Ausstieg, weil überdurchschnittlich viele ältere und weniger gut ausgebildete Briten diesen so leidenschaftlich wollen, dann müssen sich Deutschland und das verbleibende Europa eingestehen, dass jene EU, die wir heute haben, dysfunktional und unattraktiv ist. Die EU sollte das Ausscheiden Großbritanniens betrauern und daraus lernen, sie sollte auf demütige Geschenke für die Ausgestiegenen verzichten und Schlagkraft entwickeln.
Oder aber, hoffentlich, andersherum: Falls die Briten gegen den Brexit stimmen, vielleicht sogar mit 55 oder 60 Prozent und nicht nur mit 50,01 Prozent, dann ist dies ein Mandat. Dann sollten die Briten so souverän sein, mit dem aufzuhören, was dem Rest Europas seit Jahren auf die Nerven geht: mit Sonderwünschen, Selbstmitleid und diesem elenden Gefeilsche um allerletzte Details.
Die Briten sollten am Tag danach verstehen, dass sie jenes verhasste Europa, das sie um Haaresbreite verlassen hätten, selbst herbeigeführt haben, und damit anfangen, ein besseres zu bauen.
Quelle: spiegel.de
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