Donezk: Von den eigenen Leuten eingesperrt

  19 Oktober 2015    Gelesen: 594
Donezk: Von den eigenen Leuten eingesperrt
Kriegsgefangen bei den eigenen Leuten: Seit einiger Zeit ist absehbar, dass alle Seiten auf ein Ende des ukrainischen Bürgerkriegs hinarbeiten. Den meisten Beobachtern gilt ein eingefrorener Konflikt als die wahrscheinlichste Variante, zumindest bis wieder eine russlandfreundlichere Regierung in Kiew an die Macht kommt. Nicht ausgeschlossen ist auch eine Re-Integration des Rebellengebiets in Überstimmung mit den Minsker Vereinbarungen. Letzteres hängt entscheidend vom Willen und von der Politik der Kiewer Regierung ab.

Diese Aussicht gefällt nicht allen Frontkommandeuren und Kämpfern der Aufständischen, vor allem in den freiwilligen Einheiten. Schon seit Beginn der Kämpfe haben die Regierungen der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk immer wieder einzelne Kommandeure abgesetzt und Verbände aufgelöst, die als widerspenstig oder undiszipliniert galten.

Interesse an De-Eskalation

Seit Sommer 2015 setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Fortsetzung des Bürgerkriegs keiner der Parteien einschließlich Russland Vorteile bringt. Gleichzeitig verschwanden die bekanntesten und berüchtigsten Bataillone. Für viele ihrer Angehörigen begann eine Art Kriegsgefangenschaft bei den eigenen Leuten.

Über das Schicksal der Betroffenen ist kaum etwas bekannt. In den westlichen Medien herrscht ohnehin der Eindruck vor, auf Seiten der Rebellen kämpften überwiegend russische Truppen – was nicht der Wahrheit entspricht.

Im Juli haben die beiden russischen Journalisten Semjen Dobrij und Wladimir Dergatschew den Offizier einer zuvor aufgelösten Kosakeneinheit für die russische Online-Zeitung Gazeta.ru interviewt. Der Ort: ein „Donezker Keller“, ehemals eine Basis der Truppen des ukrainischen Innenministeriums, jetzt ein „Konzentrationslager“ der Aufständischen in der Straße des Leuchtenden Pfads. Unter anderem dient es dem Bataillon „Oplota“ als Stützpunkt. Alle wichtigen Einheiten, so heißt es in dem Beitrag, verfügten über solche „Keller“, auch „Wostok“, „Somali“ und andere.

„Ganz illegale“ und „illegale“ Keller

Von den „Kellern“, so heißt es, gebe es zwei Sorten: In den „ganz illegalen“, die sogar im Stadtzentrum zu finden seien, säßen die Geschäftsleute, „Kommerzi“ im lokalen Jargon. Die würden dort gequält, gefoltert und erpresst – so lange, bis sie sich freikauften. Manchmal seien es einfach Leute, die das Pech hätten, das „Falsche“ zu besitzen. Einige kämen irgendwann frei – dann aber ohne Auto, Haus, Wohnung oder Firma. Andere verschwänden für immer, „gehen verloren“.

In der zweiten Sorte Keller säßen die Aufständischen, die in der falschen Einheit dienten

Der Interviewpartner der beiden Russen heißt Nikolaj (nicht sein wirklicher Name). Mit etwa hundert Angehörigen und Freunden der noch einsitzenden Angehörigen seiner Einheit steht er in der Straße Leuchtender Pfad in Donezk – wenige Tage nach seiner Entlassung – und wartet darauf, dass seine Kameraden freikommen. Das Gespäch mit ihm gibt einen Einblick in die Mentalität, Lage und Seelenverfassung der Aufständischen:

Nikolaj, wer sind Sie und was sind Sie: Häftling, Verdächtiger, Beschuldigter?

Wir sind Kriegsgefangene. Daran ändert auch nichts, dass es die eigenen Leute sind, die uns gefangen halten. Typische Kriegsgefangene, genau wie die „Ukropy“ (Anm.: Plural von Dill, abschätzig für Ukrainer). Mit einem Unterschied: Die „Ukropy“ werden nach dem Genfer Abkommen gehalten, kriegen normales Essen, können nach Hause telefonieren und dürfen an die Luft. Mit uns geht man ganz anders um.

Und was macht man Ihren Leuten zum Vorwurf?

Den normalen Kämpfern nur, dass sie zur falschen Einheit gehörten. Irgendwer ganz oben entscheidet, dass man uns auflösen, entwaffnen muss. Die individuelle Schuld interessiert niemanden. Hast du dem Batja gedient – ab in den Keller (Anm.: Batja wird der in Ungnade gefallene Kosakenführer Juri Safonjenko genannt).

Und wer hat die Einheit entwaffnet?

In unserem Fall waren es Truppen des Donezker Innenministeriums. Sie haben die Basis umstellt, Granatwerfer herangeschafft und die Tore durchbrochen. Unsere Basis befand sich im Hinterland, alle Waffen lagen im Arsenal. Nur zwei Wachen mit Kalaschnikows, keine Chance.

Und niemand hat sich gewehrt?

Verstehen Sie doch, kein normaler Aufständischer wird einfach so auf die eigenen Leute schießen. Es waren doch unsere, die uns entwaffnet haben. Sie sind auch jetzt noch unsere, egal, was geschehen ist. Wir können über sie sagen, was wir wollen, es sind unsere, keine „Ukropy“. Auch unser Kommandeur hat die Nerven bewahrt und von den Soldaten nur verlangt, dass sie die Regeln beachten. Alle Kommandos wurden durch ihn gegeben, wie es sich gehört. Daher ging auch alles ohne Schüsse und Opfer ab. In Autobussen haben sie uns abtransportiert. Zuerst haben wir gedacht, nun, nach ein paar Stunden ist alles vorüber. Höchstens ein paar Tage. Der Dienst ist zuende, und das war’s.

Wie ist es weitergeangen?

Dann waren wir im Keller. Hundert Pritschen für dreihundert Mann. Die ersten beiden Tage gab’s überhaupt kein Essen. Nichts. Geschlafen wurde in drei Schichten. Einer liegt, zwei stehen rum und glotzen an die Wand. Nirgendwo kann man sitzen, nirgendwo liegen, kein Platz. Es war extrem stickig, manche sind ohnmächtig geworden. Am Anfang haben sie uns nicht einmal Wasser gegeben. Erst als wir anfingen, an den Gittern zu rütteln, brachte jemand zwei Plastikeimer. Leitungswasser. Ein Eimer wurde sofort ausgetrunken und dann als Pissoir benutzt.

Das gleiche Leitungswasser, vor dem im Fernsehen gewarnt wird?

Genau. Da unten ist es feucht, die Leute fingen an, krank zu werden. Einen Arzt gab es nicht. Man hat uns Tabletten gegeben, aber nach dem Prinzip: ihr müsst selbst herausfinden, wogegen sie gut sind. Schließlich gab es einen Infarkt und zwei Schlaganfälle. Dann wurden wir in eine Garage gebracht. Dort war das Problem, dass es zu kalt war. Die Fenster waren kaputt, eine Heizung gab es nicht. Zum Schlafen haben wir uns in Tapetenreste oder Plastikfolie eingewickelt. Dort lagen lauter Reste von Baumaterialien.

Wie lang hat das alles gedauert?

Eine Woche, dann haben wir einen Aufstand gemacht. Wir haben uns auf den Boden gesetzt und uns nicht vom Fleck gerührt, bis ein Staatsanwalt kommt und uns erklärt, warum wir eingesperrt sind. Zuerst haben sie uns gedroht, sie würden uns zu Mus schlagen, aber dann kam doch ein Staatsanwalt, der jeden erst einmal zu 30 Tagen Arrest verurteilt hat. Warum, wusste kein Mensch. Dann wurde etwa die Hälfte entlassen, die anderen kamen wieder in den Keller. Nach welchem Grundsatz der eine frei kam und der andere nicht, habe ich nicht verstanden. Meine Jungs zum Beispiel kommen aus der Donezker Metallfabrik oder von Koksochim (Anm.: Donezker Koksfabrik). Die haben Väter und Mütter, Ehefrauen, Kinder. Wo sollen die hin? Da stehen sie, die Eltern und alle warten (Nikolaj deutet auf die Menge, die vor dem Tor steht). Heute ist genau ein Monat rum. Aber sie werden nicht entlassen, es gibt wieder irgendeine mysteriöse Versammlung, sagt der Kommandeur.

In dem Moment ruft ein Soldat in die Menge: Weg freimachen. Als Antwort rücken die Frauen noch enger zusammen. Der Soldat spricht in sein Funkgerät: Die Mütter machen den Weg nicht frei. Der Kommandeur der Basis erscheint. Die Frauen schreien: Wir gehen zu Sachartschenko (Anm.: Republikchef in Donezk). Und von dort gehen wir erst weg, wenn unsere Söhne freikommen. Jemand übergibt dem Kommandeur eine Petition. Erregt telefoniert er, wild gestikulierend mit der Petition in der Hand.

Wie finden die Leute es, wie die Regierung mit ihnen umspringt?

Sympathischer macht es sie nicht. Wenn man einige Tausend finden will, die die Regierung hassen, ist das kein Problem.

Und wo sind die Tausende?

Das hier ist doch nicht der einzige Ort. Allein in Donezk gibt es vier Keller, wo Aufständische festgehalten werden. Dann noch Makejewka und andere. Außerdem heißt es, wenn unsere freigelassen werden, bringt man fünfhundert andere hierher. Wo die untergebracht werden sollen, weiß ich nicht. Der Kommandeur schreit schon überall rum, dass er kein Essen für sie hat.

Wie ist überhaupt die Ernährung?

Zweimal am Tag eine halbe Portion Buchweizengrütze und ein Stück Brot. Die Portionen sind winzig. Manchmal ist die Grütze essbar, dann wieder völlig verdorben. Das kriegen die Hungrigsten nicht runter. Die füttern uns schlechter als die Hunde. Dabei hatten wir bei uns auf der Basis ein Lager mit Nahrungsmitteln. Wo ist das hin?

Was werden die Aufständischen weiter unternehmen?

Einige wollen trotz allem weiterkämpfen, in einer anderen Einheit. Auch wenn sie ihre Kommandeure für Verräter halten. Andere sagen offen: Ich bin hier nicht mehr zuhause. Eure Volksrepublik kann mich mal – ich hau ab nach Russland. Sollen die hier doch alle Dill pflanzen (Anm.: Anspielung auf Ukropy – Dill – Ukrainer).

Die Russen sagen das?

Nein, unsere, die aus dem Donbass. Und je länger sie sitzen, desto mehr.

Die, die kämpfen wollen – werden sie überhaupt genommen?

Kommt darauf an, an wen sie sich wenden. Die Wachen haben uns gesagt: Geht nicht zum Bataillon „Wostok“, denen droht das gleiche Schicksal (Anm.: „Wostok“ wurde inzwischen ebenfalls aufgelöst). Bei uns war einer, den haben sie gleich zweimal hintereinander entwaffnet. Zuerst im Herbst 2014 – zusammengeschlagen, ab in den Keller -, dann ein zweites Mal mit uns. Noch einmal will er nicht.

Wird oft geschlagen?

Kommt vor. Dann kommen fünf oder sechs. Schlagen tun immer zwei, damit keiner sagen kann, wer es war. Sack über den Kopf, Hände auf den Rücken, Handschellen oder mit Klebeband an den Stuhl. Wenn sie schlagen, dann mit ganzem Herzen, mit Bedacht. Es gibt auch Elektrofolter. Oder Gasmaske bis zur Bewusstlosigkeit.

Warum wird gefoltert? Suchen sie Feinde?

Gefoltert werden die, bei denen man Geld vermutet, irgendetwas, was sie irgendwo versteckt haben.

Und was sind das für welche, die Aufständische foltern? Warum beschwert sich niemand?

Das sind keine Menschen, das sind Dämone. Viele waren bei der Polizei oder beim Militär. Sind es auch heute noch. Wer sich beschwert, „geht verloren“ und taucht nie wieder auf. Das ist nicht schwer.

Warum wird das alles gemacht?

Ich will Ihnen meine Meinung sagen. Alle Kommandeure, die willens sind, „Nein“ zu sagen, wenn die „Ukropy“ kommen, werden ausgesiebt. Alle Einheiten werden entwaffnet, die den Befehl, sich [den Ukrainern] zu ergeben, nicht ausführen werden. So wie ich denken viele. Und wissen sie, was das Schlimmste ist? Solche wie wir haben die schwersten Kämpfe durchstanden. Sehr harte Kämpfe. Angriffe mit Grad-Raketen, Panzerattacken. Gerade erst haben wir die Unterlagen für Orden und Auszeichnungen abgeben, für die Tapfersten. Und dann das. So zeichnet man uns aus.

Der Tag endete, und Nikolajs Kameraden waren immer noch Haft. Später erfuhren die beiden Russen, dass die Männer 24 Stunden später frei kamen. Diejenigen unter ihnen, die ein Jahr lang mit den Aufständischen gekämpft hatten, haben längst keine Arbei mehr. Und in der Armee ist für sie kein Platz.

Was werden Sie tun?

Verraten haben sie uns. Wir sind für Noworossija in den Kampf gegangen, für die Volksrepublik. Noworossija gibt es nicht, und die Volksrepublik schickt das Volk in den Keller. Aber wir hauen uns da wieder raus. Wenn nötig, gehe ich zu den Partisanen. Von mir kriegen die „Ukropy“ den Donbass nicht. Das hier ist mein Land. Wenn nötig, sterbe ich dafür.

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