Merkel verschachert europäische Werte

  19 Oktober 2015    Gelesen: 479
Merkel verschachert europäische Werte
Als Bittstellerin ist Angela Merkel in die Türkei gereist. Die regierende AKP kann den Besuch für den Wahlkampf ausschlachten. Die Kanzlerin hat dagegen noch sehr wenig erreicht.
Der symbolische Tiefpunkt ist die Sache mit dem Foto. Bundeskanzlerin Angela Merkel ist in die Türkei geflogen, um Ankara als Grenzschützer gegen Flüchtlinge zu gewinnen. Und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu beschwert sich auf der gemeinsamen Pressekonferenz darüber, dass sein Land als Beitrittskandidat nicht mehr bei EU-Räten dabei und auch nicht auf dem traditionellen Familienfoto zu sehen ist. Merkel sagt: Hier müssen wir wieder einen geordneten Prozess finden, wie wir Beitrittskandidaten miteinbeziehen.

Noch offener konnte kaum zutage treten, dass Ankara sich eine effektive Grenzsicherung in den Währungen Anerkennung, Aufmerksamkeit und Aufwertung bezahlen lässt. Auch, weil die gerade jetzt, zwei Wochen vor der Neuwahl wertvoll ist. Davutoğlu und sein inoffizieller Übervater und Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hoffen darauf, dass ihre AK-Partei am 1. November wieder die absolute Mehrheit bekommt.

Die Kanzlerin ist in ihrer Verzweiflung wegen der Flüchtlingskrise bereit, den türkischen Machthabern diese Anerkennung zu geben, obwohl sie sie nicht verdient haben.

Politische Tiefschläge gegen die kurdische Partei

Die Türkei hat sich in den vergangenen Jahren eher von europäischen Werten weg als hin bewegt. Die Regierung unterdrückte brutal die Gezi-Proteste, unterwanderte die Justiz und nutzte den Vorwand, den IS zu bekämpfen, um die kurdische PKK zu bombadieren. Die friedliche politische Vertretung der Kurden, die HDP, deren Erfolg bei der Wahl im Juni der AKP die absolute Mehrheit gekostet hat, versucht sie so in die Nähe des Terrors zu rücken. Bei der Lösung des Konflikts in Syrien spielt die Türkei eine fragwürdige Rolle.

Merkel versprach Ankara trotzdem nicht nur, die Sache mit dem Foto zu regeln, sondern auch schnelle Erleichterungen bei der Visavergabe. Sie stellte zudem in Aussicht, den erlahmten EU-Beitrittsprozess der Türkei wieder anzutreiben. Merkel erneuert zwar vor allem, was die EU der Türkei bereits in Aussicht gestellt hat. Nichtsdestotrotz wertet sie die Türkei mit ihren Angeboten weiter auf. Sie verkauft europäische Werte aus blanker Not. Und das zu einem fragwürdigem Preis.

Erdoğan kann sich brüsten

Die AKP kann sich vorm Wähler schon jetzt damit brüsten, dass Merkel, die mächtigste Frau Europas, als Bittstellerin nach Istanbul gekommen ist. Merkel sagte dann auch noch Sätze wie: "Ich gehe davon aus, dass hier faire und freie Wahlen stattfinden in der Türkei." Die meisten Türken und alle anderen, die je die Pro-AKP-Dauerwahlbeschallung im türkischen Fernsehen miterlebt haben, wissen, dass das Blödsinn ist. Sollte der Satz von den fairen Wahlen als Mahnung gemeint gewesen sein, wäre diese so zahm, dass sie kaum auszuhalten ist.

Für all das, was sie moralisch preisgibt, hat die Kanzlerin erstaunlich wenige konkrete Zusagen aus Ankara eingeholt. Am bedeutsamsten ist wohl noch das Versprechen, von Juli 2016 an Flüchtlinge, die illegal über die Türkei in die EU gereist sind, wieder aufzunehmen. Was den geforderten verstärkten Grenzschutz angeht, konnte Merkel dagegen nur melden, dass sie die Bereitschaft der Türkei "gespürt" habe, illegale Migration in die EU zu verhindern. Da sind offensichtlich noch einige Verhandlungen nötig.

Merkel hätte gut daran getan, nur Zugeständnisse zu machen, die unmittelbar mit der Flüchtlingskrise verknüpft sind. So gesehen ist es zwar richtig, dass sie Ankara mehr Geld anbietet, um Flüchtlinge im Land zu versorgen. Selbst die drei Milliarden, die Ankara bereits fordert, sind dafür aber knapp bemessen.

Die Türkei versorgt die Menschen aus Syrien und dem Irak in ihren Flüchtlingslagern einerseits mit ausreichend Lebensmitteln und stellt ihnen eine Gesundheitsversorgung zur Verfügung. Das ist vorbildlich. Nur leben die meisten der mehr als zwei Millionen Schutzsuchenden in der Türkei nicht in Flüchtlingslagern. Die Not dieser Menschen ist allgegenwärtig in Istanbul. Eine bessere Versorgung vor Ort, eine schnellere Integration in den türkischen Arbeitsmarkt und in die türkische Gesellschaft würden womöglich mehr Flüchtlinge davon abhalten, nach Europa zu kommen, als türkische Grenzpolizisten es könnten. Es wäre nicht das erste Mal, dass Flüchtlinge neue Routen in die EU entdecken, wenn ein Land versucht, ihnen den Weg zu versperren. Wer dagegen eine echte Perspektive auf ein Leben in der Nähe der Heimat hat, bleibt.

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